Pflegeskandal
Seniorenheim Ebnerstraße: Ein Versagen des staatlichen Schutzauftrags
Am Donnerstag, 24. Februar, trug Augsburgs Gesundheitsreferent Reiner Erben im Augsburger Stadtrat einen Sachstandbericht zur Causa Seniorenheim Ebnerstraße vor. “Ich weise den Vorwurf, wir hätten weggeschaut ganz klar zurück”, so der Referent, nachdem er chronologisch aufgelistet hatte, wann und wie oft von der Heimaufsicht eben dort kontrolliert und beraten wurde. “Unsere Heimaufsicht kommt ihrer Kontrollfunktion nach und tut alles, um Qualitätsmängel in der Pflege zu sanktionieren und abzustellen“, so Gesundheitsreferent Reiner Erben.
Der Vorwurf des Wegsehens, der übrigens nicht ernsthaft im politischen Raum stand, konnte von Erben in der Tat widerlegt werden, doch daraus resultiert ein anderer Verdacht, nämlich das Hinsehen, ohne an den menschenverachtenden Missständen etwas verändert zu haben. Nachdem Stadtrat Peter Grab (WSA) während seiner Rede, aufgrund eines Geschäftsordnungsantrags der CSU (Beschränkung der Redezeit auf drei Minuten), von OB Eva Weber das Wort entzogen wurde, zeigte sich Stadtrat Bruno Marcon (Augsburg in Bürgerhand) dergestalt von dem skandalösen Vorgang erschüttert, sodass er aus Protest auf seinen Redebeitrag gänzlich verzichtete.
In drei Minuten hätte Marcon ohnehin seine umfangreichen Recherchen nicht darstellen können, weshalb die DAZ nun nachreicht, was Bruno Marcon im Stadtrat als Rede verwehrt wurde. — Augsburgs Gesundheitsreferent Reiner Erben verschweige die schon seit langem bekannten eklatanten Verstöße gegen das Schutzrecht von Pflegebedürftigen. Damit entziehe er sich aus seiner persönlichen Verantwortung, so Marcon.
Gastbeitrag von Bruno Marcon
Am 16.2.22 informierte der zuständige Gesundheitsreferent Reiner Erben den Augsburger Stadtrat, dass im Pflegeheim Ebnerstraße im Stadtteil Oberhausen die Pflege “wegen zahlreicher Corona-Fälle, auch in den Reihen des Personals” nicht mehr gewährleistet sei. In den Tagen danach wurden die 85 Pflegebedürftige in andere Pflegeeinrichtungen verlegt und das Pflegeheim Ebnerstraße geschlossen. Der Gesundheitsreferent Erben und der zuständige Sozialreferent Martin Schenkelberg lobten ihr eigenes schnelles Handeln.
Während die Augsburger Stadtratsspitze ihr Handeln mit der Corona-Lage im Heim begründete, hatten Tage zuvor mehrere große Medien über katastrophale Zustände im Seniorenheim Ebnerstraße berichtet. Der Bayerische Rundfunk hatte am 9.2.22 mit der Überschrift “Skandalheim-Augsburg” über solche Zustände in der Pflegeeinrichtung informiert. Einen “Undercover”-Einsatz des Wallraff-Teams hatte RTL am 10.2.22 ausgestrahlt. Dort berichtete eine eingeschleuste Praktikantin von horrenden Pflege-Missständen. So sollen Wunden von Heimbewohnern unversorgt geblieben sein und ein Mitarbeiter berichtet von Mangelernährung und katastrophalen hygienischen Zuständen.
Diese aktuellen Aussagen decken sich mit einem dem BR vorliegenden Kontrollbericht eines unangemeldeten Besuches des Medizinischen Dienstes vom Oktober 2021. Der Medizinische Dienst ist der sozialmedizinische Beratungs- und Begutachtungsdienst für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung. Er prüft in Pflegeeinrichtungen die Versorgungsqualität. Damals wurden neun Heimbewohner stichprobenmäßig ausgewählt. Dabei wurde festgestellt, dass einige der Bewohner ungepflegt und nicht gewaschen waren, zu wenig Essen und Trinken verabreicht wurde, falsche oder fehlende Arzneimittel vorhanden waren und Wunden unversorgt blieben. Die Schlussfolgerung des Berichts: Es bestehe eine Gefährdungssituation der Betroffenen und die Pflege sei nicht sichergestellt.
Trotz eklatanter Mängel ist nichts unternommen worden
Eine erneute Prüfung durch den Medizinischen Dienst (MD) am 4.1.22 brachte 22 Defizit-Bewertungen (lt. Münchner Merkur, 10.2.22). Erneut wurden dort u.a. mangelnde hygienischen Zustände und Arzneimittelversorgung sowie unsachgemäße Pflege- und Wundversorgung festgehalten. Trotz dieser eklatanten Mängel ist jedoch von Verwaltungsseite und dem zuständigen Gesundheitsreferenten der Stadt Augsburg Reiner Erben, nichts unternommen worden.
Das ist vor allem in Anbetracht der Vorgänge rund um die Seniorenresidenz Schliersee unbegreiflich, dessen Träger die “Nursing Homes GmbH”, demselben Eigentümer wie die Seniorenresidenz in der Ebnerstraße gehört.
Das Haus in Schliersee wurde im September 2021 geschlossen, nachdem ein Verfahren wegen “Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen” eingeleitet worden war. Schon am 14.4.21 (lt. Tegernseestimme v.19.4.21) hatten zwei Staatsanwälte der Zentralstelle zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen in Bayern in Begleitung von 33 Beamten der Kripo Rosenheim das Haus in Schliersee durchsucht.
Schliersee: Pflegebedürftige und Pflegekräfte wurden nach Augsburg verlegt
Untersuchungsanlass waren Körperverletzungsdelikte und ungeklärte 17 Todesfälle. Die Vorgänge rund um das Haus in Schliersee waren schon allein deswegen bekannt, weil 20 Bewohner des Hauses in Schliersee nach Augsburg verlegt wurden mitsamt einiger Pflegekräfte und dem Heimleiter.
Auch der Eigentümer der beiden Häuser in Schliersee und Augsburg ist kein unbeschriebenes Blatt. Es handelt sich um den italienischen Pflegekonzern “Sereni Orozzenti”, der in Italien, Spanien und Deutschland insgesamt 80 Pflegeeinrichtungen hat. Der Konzern expandierte in den letzten Jahren gewaltig. Während er im Jahre 2015 noch rund 2500 Pflegebetten verwaltete, waren es im Jahr 2019 etwa 5900. Der Umsatz des Konzerns steigerte sich auf jährlich 200 Millionen Euro. Beispielhaft für das Geschäftsgebaren von Konzernen im Gesundheitswesen sind die Pflegeeinrichtungen in Augsburg und Schliersee. Sereni Orozzenti hat die Häuser 2019 vom belgischen Großkonzern Armonea übernommen, der wiederum 2016 die Pflegeeinrichtungen von der Deutschen Pflege und Wohnen GmbH gekauft hatte (lt. pflegemarkt.com).
Gegenüber Sereni Orozzenti waren von italienischen Ermittlungsbehörden seit 2019 Strafverfahren eingeleitet worden. So lautete die Anklage der Staatsanwaltschaft Udine auf Abrechnungsbetrug von über 10 Millionen Euro. Nur mit einer Vergleichszahlung von 3,4 Millionen Euro konnte die Schließung des Konzerns verhindert werden. Der Gründer des Konzerns Massimo Blasoni erhielt 11 Monate Gefängnis wegen Betruges, nachdem er zuvor schon in U-Haft gesessen hatte. In einem Personalzusammenhang offenbart sich die Verbindung zur politischen Ebene: Blasoni war stellvertretender Regionalkoordinator von Friaul für Forza Italia und hatte eine politische Vergangenheit, die von “politischen Missgeschicken” geprägt war. (lt. Il Fatto Quottidiano v. 12.5.21)
Die Geschehnisse um Sereni Orozzenti und seine Pflegeeinrichtungen geben einen tiefen Einblick in das Geschehen auf dem Pflegemarkt. In Deutschland hatte 1995 die Kohl-Regierung die Pflege privatisiert. Die folgende Rot-Grüne Regierung hat rechtliche Hemmnisse auf den Kapitalmärkten niedergerissen und damit den Zugang von Finanzinvestoren auf dem Pflegemarkt ermöglicht. Die Folge: 45% der stationären Pflegeeinrichtungen sind in den Händen von internationalen Konzernen. 40% davon sind wiederum Privat-Equity-Unternehmen. Zwei Drittel der ambulanten Pflegedienste sind privatisiert.
Diese Finanzinvestoren handeln spekulativ. Sie kaufen für kurze Zeit Einrichtungen auf, um sie dann gewinnbringend wieder zu veräußern. Ihr festgeschriebenes Ziel ist es, auf einem für sie gesicherten Markt den Höchstprofit herauszuschlagen. Das erreichen sie über die Senkung von Personal- und Pflegekosten und in Fällen des italienischen Konzerns Sereni Orrozenti, so der Vorwurf, über Betrug bei der Ausführung von Versorgungsbeträgen.
Weder in Bayern noch in Augsburg können sich die zuständigen Verwaltungen darauf hinausreden, dass sie nichts gewusst hätten
Die Informationen über den vermeintlichen Betrug und die katastrophalen Pflegemissstände sind also schon seit langem bekannt. Weder in Bayern noch in Augsburg können sich die zuständigen Verwaltungen herausreden, dass sie nichts gewusst hätten.
Sie haben nicht gehandelt. Nach dem Sozialgesetzbuch SGB XI, § 117 ist der Medizinische Dienst und alle beauftragten Stellen, die unter diese Bestimmungen fallen, verpflichtet, Mitteilungen über die konkreten Ergebnisse der Qualitätsprüfungen an die Heimaufsicht zu machen. Die Heimaufsicht – Fachstelle Pflege und Behinderteneinrichtungen, Qualitätsentwicklung und Aufsicht (FQA) – ist in Augsburg dem Gesundheitsamt zugeordnet.
Gesundheitsreferent Erben hat nicht gehandelt
Der zuständige Referent und politisch verantwortlich für die Heimaufsicht ist Reiner Erben. Nach dessen Angaben steht das Seniorenheim Ebnerstraße “seit Anfang letzten Jahres unter intensiver Beobachtung, Begleitung und engmaschiger Kontrolle der städtischen Heimaufsicht”. Es habe insgesamt vier Begehungen durch die Heimaufsicht gegeben, so der Referent und verweist auf die Mängelfeststellung des FQA bei der Letzten Prüfung am 31.1.22. Trotz umfangreicher Medienberichte im Verlauf des Jahres 2021 und umfassender Mängelberichte von Prüfstellen hat der Referent nicht gehandelt.
Angesichts des erlitten Leids vieler Pflegebedürftigen ist von einem Versagen des staatlichen Schutzauftrags zu sprechen. Zulassungsprüfungen orientieren sich offensichtlich zu sehr nach betriebswirtschaftlichen Kriterien und der Pflege-TÜV richtet sich zu sehr nach den Angaben der Heime aus. So ist es unverständlich, wie das geschlossene Katastrophenheim in Schliersee noch in 2019 die Note 1,2 erhalten konnte. In Schliersee wurde in der Vergangenheit und offensichtlich bis heute in Augsburg keine Plausibilitätsprüfung vorgenommen mit dem Kontrollauftrag: Sind abgerechnete Leistungen mit dem vorhandenen Personal überhaupt zu schaffen?
Das Versagen wird vielmehr überdeckt durch ein System von Nicht-Verantwortlichkeiten. Dem bedient sich auch der Augsburger Gesundheitsreferent Erben. Er beteuert, dass alle Verwaltungseinheiten bestens gehandelt hätten und verschweigt die schon seit langem bekannten eklatanten Verstöße gegen das Schutzrecht von Pflegebedürftigen. Damit entzieht er sich auch aus seiner persönlichen Verantwortung. (Bruno Marcon)