„Nora“ im Martinipark: Ken und Barbie im Puppenheim
Ibsens Stück „Nora“ das die starre bürgerliche Familie im 19. Jahrhundert aufs Korn nimmt, hat im Original den Titel „Ein Puppenheim“ (Et dukkehjem). Regisseurin Susanne Lietzow fokussiert konsequent darauf und inszeniert im Martinipark eine künstliche Ken-und-Barbie-Welt.
Von Halrun Reinholz
Großes Stelldichein im „Barbie-Haus“ der Helmers.
Alles ist für Weihnachten vorbereitet im perfekten Haus der Familie Helmer – Familienvater Torvald, der bald Bankdirektor sein wird, tadelt Nora, seine „Lerche“, die wieder zu viel Geld für Geschenke ausgegeben hat. Sie leben mit den drei Kindern und der Amme Anne-Marie in einem perfekten Haus, einer Barbie-Welt, und genauso sehen sie auch aus: Die blondgelockte Nora mit adrettem gelben Kleid im 50er Jahre-Look (Jenny Langner) stakst hochhackig daher und trällert ihren „Ken“ (Sebastian Müller-Stahl) mit blonder Fönfrisur und seriösem Business-Anzug liebevoll an. Konsequent lässt Regisseurin Susanne Lietzow die Darsteller auf der Bühne als „Puppen“ agieren – steif, mit maskenhaften Gesichtern und gespreizten Fingern, eine Kunst-Welt eben. Ein leises Raunen ist zu Beginn aus den Zuschauerreihen zu vernehmen: Soll das jetzt die nächsten zweieinhalb Stunden so weitergehen? Denn, ja, es nervt zunächst etwas. Doch wenn man sich darauf einlässt, wirkt das Konzept stimmig. Die Familienwelt im 19. Jahrhundert und die Welt im Barbie-Traumhaus sind in ihrer Künstlichkeit gar nicht so weit voneinander entfernt. Jeder und jede hat eine zugewiesene Rolle, die nicht hinterfragt wird und nicht ins Wanken geraten darf. Torvald liebt sein „Kindsköpfchen“ Nora, für die er seit acht Jahren Entscheidungen trifft, ohne zu ahnen, dass auch sie einmal eine fatale Entscheidung getroffen hat: Die Unterschrift ihres Vaters gefälscht, um ihrem Mann mit einem Kredit eine teure Therapie zu ermöglichen. „Ich habe es aus Liebe getan“, sagt sie selbstbewusst, als Torwalds Angestellter Krogstadt sie damit erpressen will. Die Vertuschung gelingt nicht und als alles ans Licht kommt, erlebt Nora von Torvald die Enttäuschung ihres Lebens: Ablehnung, Unverständnis und Strafe. Krogstads Kehrtwende macht scheinbar alles wieder gut, aber Nora hat ihre Lehre daraus gezogen und verlässt das vermeintlich idyllische Familienleben. Dass dieser Schluss bei der ersten deutschen Übersetzung von Ibsen abgemildert werden musste, zeigt die Brisanz des patriarchalen Familienlebens – wohl gerade in Deutschland. Selbstverständlich greift Lietzows Regiekonzept auf das radikal-feministische Ende der Originalfassung zurück. Eindrucksvoll wandelt sich die blonde Barbie, die zuvor noch für den Kostümball als hübsche neapolitanische Tarantella-Tänzerin ausstaffiert und von ihrem Mann wie eine Schaufensterpuppe auf den Schultern nachhause gebracht worden war, in eine quasi nackt und kahlköpfig da stehende Frau, die ihren fassungslosen Mann ruhig und emotionslos zur Rede stellt.
Nora (Jenny Langner, re) mit Torvald (Sebastian Müller-Stahl) und Christine (Mirjana Milosavljević) – Fotos: Jan-Pieter Fuhr
Neben den beiden Hauptfiguren wird das „Puppenhaus“ noch von weiteren Gestalten bevölkert, die alle unter den Zwängen ihrer Existenz leiden. Die Amme Anne-Marie (Ute Fiedler) schlurft als Hintergrundgestalt quasi unscheinbar durch das Bühnengeschehen, doch im Gespräch stellt sich heraus, dass sie einst ihr eigenes Kind weggegeben hat, weil die „kleine Nora“ sie damals als Amme brauchte. Der Hausfreund Dr. Rank (Thomas Prazak) gesteht Nora im Angesicht seiner tödlichen Krankheit seine bislang unterdrückte Liebe. Krogstad (Kai Windhövel) ist wegen eines früheren Vergehens gesellschaftlich geächtet und setzt alles auf eine Karte. Zu allem Überfluss entpuppt sich Noras plötzlich aufgetauchte Jugendfreundin Christine (Mirjana Mirosavljevic) als frühere Geliebte Krogstads, die ihm seinerzeit aus Not den Laufpass gegeben hat. Die in Ibsenscher Manier nach und nach aufgedeckten Erkenntnisse über all diese Verwicklungen lässt die Puppenwelt immer rissiger werden und das künstliche Gehabe immer grotesker. Um die Diskrepanz von Schein und Wirklichkeit dezent zu beleuchten, werden von den puppenhaften Gestalten an „passenden“ Stellen immer wieder Schlager der 50er und 60er Jahre intoniert.
Betont wird die künstliche Welt auch durch die Bühne, die Aurel Lenfert wie ein Puppenhaus mit farblosen Bausteinen gestaltet hat, vor denen sich die klischeehaften Kostüme umso besser abheben. Dass durch das Fenster eine Wüstenlandschaft zu sehen ist, erfährt man aus dem Programmheft: In der Wüste von Nevada wurden in den 50er Jahren Atomtests durchgeführt. Zur Simulation von Lebensnähe hat man „Puppenhäuser“ mit Szenen aus dem amerikanischen Alltag gestaltet. Ähnlich weltfremd mitten im Nichts wirkt das Puppenhaus der Helmers mit seinem Personal.
Dass das steife Puppen-Gehabe eine Herausforderung für die Schauspielerinnen und Schauspieler ist, ahnt man als Zuschauer sofort. Dramaturgin Sarah Mössner bestätigt es im Programmheft explizit durch einen kleinen Einblick in den Probenalltag: „Die normalsten Dinge – hinsetzen, Türen öffnen, Gegenstände greifen – wurden auf einmal zum Problem.“ Das Regiekonzept funktionierte aber nur, weil die Sprache eben nicht zum Roboter-Sprech werden durfte. Diesen Automatismus zwischen Sprache und Bewegungen mussten die Schauspieler in mühevoller Kleinarbeit durchbrechen – was hervorragend gelang und zur Faszination des Publikums über diese ungewöhnliche Inszenierung beitrug. Die anfängliche Skepsis des einen oder anderen wandelte sich zum Ende der Vorstellung in jubelnde Begeisterung – für das Ensemble, aber ganz deutlich auch für das Regie-Team.