Brecht: Rückkehr des verlorenen Sohnes
Das Ende der DDR und der anderen sozialistischen Länder machte eine Neuentdeckung Bertolt Brechts möglich – auch in Augsburg.
So die Grundannahme der Augsburger Brechtfestival-Macher Joachim Lang und Jan Knopf, die in Augsburg nicht unumstritten sind. Wie in Augsburg mit Bertolt Brecht umgegangen wurde und wird, schildert in einer Art kulturpolitischen Brecht-Reportage der Berliner Journalist Ralf Hutter. Es handelt sich bei der DAZ-Fassung um einen „Nachdruck“ . Der Text, der in ähnlicher Fassung bereits am Wochenende in der überregionalen Tageszeitung „Neues Deutschland“ erschien, zeigt einen entspannten Blick auf eine angespannte Situation. Hutters Blick aus der Ferne ist nicht oberflächlich, nicht aufgeregt oder ironisierend, sondern von einer wohltuenden Sachlichkeit bestimmt.
Von Ralf Hutter
Am vergangenen Freitag hat das jährliche Augsburger Brechtfestival begonnen. Überthema des zehntägigen Programms: Brecht im Exil. Damit ist die Zeit während des Nationalsozialismus gemeint. Doch der weltberühmte Dramatiker wurde auch danach, in Ost-Berlin, nicht wirklich heimisch. In seine Geburtsstadt Augsburg reiste er hingegen immer wieder gerne. Dort schlug ihm aber fast bis zum Ende des Jahrhunderts vor allem jene Ablehnung entgegen, die den vermeintlichen Regime-Dichter so oft traf.
Es ist sozusagen ein großer Konflikt der Weltliteratur, der sich in Augsburg im Kleinen abspielt. Es geht um einen der berühmtesten Dramatiker des 20. Jahrhunderts, der seit dem Untergang der Sowjetunion und der ihr angeschlossenen Staaten neu, unverfälscht gelesen werden kann und wird. Es geht um die richtige Art der Würdigung, um vermeintliche Verflachung, Vereinnahmung – und um Kommerz geht es auch. Es geht um Eugen Berthold Brecht, der heute im Internetauftritt der Stadt als „Augsburgs berühmtester Sohn“ bezeichnet wird. Seit der Jahrtausendwende wird Bertolt (wie er sich später nannte) Brecht in der Stadt seiner Kindheit, Jugend und ersten literarischen Arbeiten regelmäßig mit einem Festival gefeiert. Selbst die CSU kann etwas mit ihm anfangen.
„Es fällt auch im Alltag auf, dass Brecht deutlich präsenter in der Stadt ist als früher“, sagt Kurt Idrizovic, ein langjähriger Brecht-Popularisierer. Er sitzt in seiner Buchhandlung im Augsburger Zentrum, die in einem kleinen rückwärtigen Raum einen „Brecht-Shop“ bietet, wo Literatur von und über Brecht zu haben ist. Seit Jahren gebe es immer wieder Veranstaltungen, die Lokalzeitung und der Stadtvermarktungsverein bemühten sich um Brecht, und das Theater spiele ihn auch öfter und intensiver als früher, erklärt Idrizovic. An einigen Stellen der Stadt steht eine Brecht-Silhouette aus Metall als Wegweiser zu Brecht-Orten. Idrizovic selbst organisiert Stadtführungen auf den Spuren des jungen Brecht. Der abtrünnige Sohn des Augsburger Bürgertums, der hier lange Zeit überwiegend als prominenter Kommunist und DDR-Dichter verschmäht wurde, zieht nun mehr und mehr Tourismus an, selbst aus dem Ausland.
Außerdem steigt in Kurt Idrizovics Buchladen nach eigenen Angaben der Umsatz. Will sagen: Nicht nur Auswärtige, auch die Lokalbevölkerung interessiert sich zunehmend für Brecht. Vor allem nach dem jährlichen Brechtfestival, so berichtet der Buchhändler, verzeichne er ein zunehmendes Interesse, auch von Einsteigern. Sein Laden ist aber auch „die einzige Adresse, wo man sich persönlich über Brecht beschweren kann“, hält der 62-Jährige fest. „Die Leute kommen mit ihrer Verunsicherung, aber auch mit ihren massiven Vorbehalten zu uns und wollen das loswerden.“ Die Vorbehalte haben tiefe Wurzeln. Kurt Idrizovic wohnt lange genug in Augsburg, um davon ein Lied singen zu können: „Als ich vor zirka 30 Jahren begann, mich in meiner damaligen kleinen und jungen Buchhandlung mit Brecht zu beschäftigen, da waren die Vorbehalte in der Stadt noch deutlich größer als die Annahme Brechts. Für mich war es nahezu normal, dass er eigentlich nur als Feindbild auftauchte und nur einige wenige Institutionen sich privat um ihn kümmerten.“
Zwar war bereits Anfang der 1960er auf einen Stadtratsbeschluss hin eine an die Stadtbibliothek angegliederte Brecht-Sammlung in Angriff genommen worden; und Anfang der 1990er wurde sie mit einer wissenschaftlichen Stelle aufgestockt, wo seitdem erfolgreich der junge Brecht beforscht wird. Doch in der städtischen Öffentlichkeit war in den frühen 1990ern noch nicht viel geboten. Dies änderte sich mit dem ersten Brechtfestival 1995 und der Eröffnung des Brechthauses 1998.
Das Brechthaus ist ein unscheinbares Gebäude im Zentrum Augsburgs, es liegt zwischen zwei Kanälen. Es handelt sich um Brechts Geburtshaus, das in den 1980ern von der Stadt erworben wurde. Wer es betritt, steht in einem verbreiterten Flur. Rechts ist die Kasse, links ein Raum, der bis 2014 nur einige Ausstellungsstücke, eine Sammlung mit Büchern von und über Brecht und einen älteren Bildschirm enthielt. Mehr als ein Film war allerdings nicht geboten. Seit einigen Monaten befindet sich dort eine „Brecht-Lounge“ mit roten Polstermöbeln. Die Stadtvermarktungs-GmbH Regio, die das Haus vor einem Jahr übernommen hat, soll es attraktiver machen, wobei auch eine Veranstaltungsreihe helfen soll. Das Brechthaus ist nämlich schwach besucht.
Dabei gibt es hier einiges zu sehen und zu lernen. Vom kleinen Foyer geht eine schmale Treppe nach oben in die ehemalige Brecht’sche Wohnung. Hier ist in einer Handvoll Räume nach einem Schwerpunkt zu Brechts Jugend sein ganzes Leben behandelt. Bilder gibt es viele, sowohl aus seiner Jugend, als auch von Aufführungen seiner Stücke. Auch Brecht’sche Publikationen in verschiedenen Sprachen und Bühnenbildmodelle sind zu sehen. Ein paar Installationen lockern das Ganze auf. – Doch die vielen Informationen zu Brecht und seiner Zeit müssen von Tafeln abgelesen werden. Das ist nur einer der Kritikpunkte, die das Brechthaus betreffen, und die schon von allen maßgeblichen Leuten in zum Teil schärfster Form öffentlich geäußert wurden. Zusammengefasst: Bausubstanz und museumspädagogische Ausstattung sind veraltet, manche Exponate oder ihre Darstellung sind fragwürdig, Originaldokumente können aufgrund der Feuchtigkeit des Gemäuers nicht ohne Weiteres ausgestellt werden; die Besucherzahlen sind schlecht, die Inhalte nicht mehrsprachig und das Haus zu klein. Die autobiografische Bedeutung des Hauses ist ohnehin minimal, da Brecht nur das erste halbe Jahr seines Lebens hier verbrachte. Langfristig soll ein neues Ausstellungskonzept her. Wie Augsburg mehr Raum für die Präsentation von Brechts Leben und Werk schaffen kann, steht aber noch in den Sternen.
Hingegen hat sich das Brechtfestival zu einem sehr beachtlichen Reigen verschiedenster Veranstaltungen gemausert. Ab 1995 zuerst alle drei Jahre und seit 2006 jährlich wird mit ihm an Bertolt Brecht erinnert. Seit 2010 wird es von Joachim Lang geleitet, einem renommierten Fernsehregisseur, Autor und Redakteur beim Südwestdeutschen Rundfunk. Sein Auftrag: Brecht einem größeren Publikum nahebringen. Anderthalb Wochen dauert das Festival mittlerweile, das nun immer an Brechts Geburtstag am 10. Februar endet. Für die letztjährige Ausgabe war nur großes Lob zu hören. Die Verbindung von Niveau, Einbindung lokaler Akteure und Publikumswirksamkeit sei sehr geglückt, so der Tenor. Ausländische Theater- und Musikgruppen, Beiträge der lokalen freien Szene, des Theaters und der Philharmoniker, wissenschaftliche Vorträge, politische Diskussionen, Lesungen, Ausstellungen, Kinder- und Jugendprojekte, und das alles an anderthalb Dutzend Spielstätten – dieses Festival bindet auf die eine oder andere Weise einen großen Teil der Stadt, gerade auch ihrer Kulturschaffenden, ein.
Auch das „Kulturcafé Neruda“ hat das Brechtfestival mittlerweile ergriffen. Nicht, dass die Beschäftigung mit Brecht hier neu wäre. Sein Name findet sich auf einigen der Bücher, die hier in Regalen stehen. Das Neruda zieht mit seiner Wohnzimmeratmosphäre, zu der auch ein Klavier beiträgt, diverse Kulturschaffende an. Türkische Percussionisten, Mitglieder der Augsburger Philharmoniker – sogar Straßenmusiker können in der zentral gelegenen Kneipe angetroffen werden. Dementsprechend oft wird hier musiziert. Eröffnet hat das Café Neruda 2010 Fikret Yakaboylu. Der 1956 in der Türkei geborene Yakaboylu lebt seit 1985 in Deutschland und seit 1988 in Augsburg. „Als ich nach Augsburg kam, bin ich gleich in der ersten Woche zu Brechts Haus gegangen und war total glücklich, in seiner Stadt zu sein“, berichtet er. „Aber ich war andererseits von Augsburg etwas enttäuscht, denn viele kannten ihn gar nicht, oder mochten ihn nicht. So ein weltbekannter und großartiger Sohn – aber die eigene Stadt lehnt ihn ab!“ In der Türkei hatte Yakaboylu einen ganz anderen Umgang mit Brecht kennengelernt: „Viele Menschen in Deutschland wissen nicht, dass Bertolt Brecht in der Türkei sehr beliebt ist und dass fast alle seine Gedichte und Theaterstücke übersetzt worden sind. Sehr viele Menschen kennen seine Gedichte sogar auswendig und es gibt sehr viele Lieder, die aus seinen Texten gemacht worden sind.“
„Brecht ist unser gemeinsames Erbe“
Beim vergangenen Brechtfestival fanden an einem Abend zwei Lesungen im Neruda statt. Yakaboylu und ein deutscher Pianist trugen Gedichte von Brecht und dem Türken Nazim Hikmet vor, jeweils auf Deutsch und Türkisch. Diese sehr gut besuchten Veranstaltungen sind dem Kneipenbesitzer auch in politischer Hinsicht wichtig: „Wir leben ja jetzt in einer interkulturellen Gesellschaft, auch in Augsburg: Wir haben hier 35 Prozent migrantische Mitmenschen. Wir sollten bei einer so wichtigen Veranstaltung wie dem Brechtfestival nicht als Zuschauer an der Seite stehen. Wir sollten auch aktiv teilnehmen. Brecht ist jetzt inzwischen unser gemeinsames Erbe.“
Brechts Gedichte, die von der gesellschaftlichen Ausgrenzung jüdischer Menschen handeln, könnten Menschen mit türkischen Wurzeln sehr nahe gehen, sagt Fikret Yakaboylu. Wenn es etwa in einem heiße, Häuser sollten nicht brennen, denn die Nacht sei zum Schlafen da, dann fänden sich darin Menschen wieder, denen ausländerfeindliche Brandanschläge in Deutschland noch allzu gut in Erinnerung sind. Zu Brecht sollte also noch mehr in Augsburg stattfinden, meint Yakaboylu. Mit dem Festival sei die Stadt schon mal auf einem guten Weg.
Lang und Knopf versprachen eine Neuentdeckung
Brecht ist im offiziellen Augsburg bereits länger angekommen. Seine neben dem Brechtfestival zweite regelmäßige Würdigung erfährt er mit dem Bertolt-Brecht-Literaturpreis. Die Stadt verleiht ihn alle drei Jahre für die „kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart“. Im Kulturausschuss wurde einstimmig – und somit mit den Stimmen der CSU – beschlossen, das neue Schauspielhaus „Brechtbühne“ zu nennen. Brecht hat sich im Lauf der Zeit die Anerkennung des Establishments verschafft, während manche private Initiativen ausbluteten. So ist die Auflage des in Augsburg herausgegebenen Dreigroschenheftes stark zurückgegangen. Die 1994 gegründete Vierteljahreszeitschrift berichtet über Veranstaltungen und Neuigkeiten rund um Brecht und wurde schon immer von Brecht-Interessierten in aller Welt abonniert.
Doch die Auseinandersetzung mit dem großen Augsburger ist in seiner Geburtsstadt noch lange nicht zu Ende. „Zu Brecht gibt es in Deutschland noch viele Schätze zu heben, gerade in Augsburg.“ Diesen Satz sprach zu Beginn des Brechtfestivals 2014 Jan Knopf, emeritierter Literaturprofessor und seit 1989 Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht in Karlsruhe. Knopf ist seit Jahren wissenschaftlicher Berater des Festivals, hält dort Vorträge und ist täglich auf oder neben einer Bühne mit seinem umfassenden Wissensschatz präsent. Er sagt immer wieder ganz klar: Brecht ist noch nicht in seiner ganzen Bedeutung erfasst, noch nicht einmal ganz in seinem Denken, das von diversen Mythen um die Person verdeckt wird. 2012 veröffentlichte Knopf eine dicke Brecht-Biografie, weil er findet: Brecht wurde sowohl in der DDR, als auch in der BRD stets durch die von der Systemkonkurrenz bedingten Perspektiven verzerrt. Festivalleiter Joachim Lang und Jan Knopf versprachen eine Neuentdeckung.
Koopmann: „Wenn alle mit ihm so einverstanden sind, dann ist irgendwas nicht in Ordnung“
Wie seine Vorgänger suchte Joachim Lang für jedes Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus: Brecht und der Film, Brecht und die Musik, Brecht und die Politik. 2013 der junge Brecht, dann Brecht in den 1920ern in Berlin, dieses Jahr die Zeit des ausländischen Exils. So wird der berühmte Autor, dessen multimedialer Werkumfang aber viel weniger berühmt ist, in verschiedenen Facetten gezeigt. Das wirkt der Vorverurteilung entgegen. So lobte Bernd Kränzle, CSU-Fraktionsvorsitzender im Augsburger Stadtrat und Landtagsabgeordneter, bei einer Podiumsdiskussion des Festivals 2014: „Die Öffnung durch Lang beleuchtet Brecht von einer Seite, die schon Vergnügen bereitet.“ Auch Helmut Koopmann, emeritierter Literaturwissenschaftsprofessor der Universität Augsburg, hielt auf jenem Podium fest, dass hier in den letzten zehn Jahren der vergnügliche Brecht entdeckt worden sei, der unabhängig von parteipolitischen Grenzlinien konsumierbare Brecht. Koopmanns Mahnung deshalb: „Ich meine, dass Brecht sein Widerspruchsgeist erhalten bleiben muss. Brecht ist immer dagegen gewesen – wenn jetzt alle mit ihm so einverstanden sind, dann ist irgendwas nicht in Ordnung.“
Es hat den Anschein, dass Brecht in Augsburg nun Everybody’s Darling ist
Tatsächlich hat es bei öffentlichen Veranstaltungen den Anschein, dass Brecht in Augsburg nun Everybody’s Darling ist. Stimmt dieser Eindruck? Kurt Gribl, seit 2008 Oberbürgermeister für die CSU, wägt ab: „Es ist zwar schick und modern, sich diesem Brecht anzuschließen und ihn gut zu finden. Aber es gibt nach wie vor Leute, die in der Auseinandersetzung mit ihm nicht zurecht kommen. Teilweise geht es mir auch selbst so. Es ist vielleicht gerade dieses Spannungsverhältnis, das Brecht interessant macht. Er lässt sich in keine Schublade packen.“ Gribl, der seit seiner Geburt 1964 in Augsburg lebt, hat einen sehr wechselhaften Umgang mit Brecht erlebt, wie er sagt. Die Distanzierungen hätten nun abgenommen: „Ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die immer noch hadern, aber auf einem anderen Niveau als früher. Früher war es so platt, da hat’s geheißen: Das ist ein Kommunist. Außerdem war er verpönt wegen seiner Weibergeschichten. Das war das Bild, das von ihm gezeichnet war.“ Hingegen ist Gribl selbst schon zu der Erkenntnis gekommen: „Wenn man sich näher mit Brecht befasst, dann ist das Abstempeln als Kommunist zu oberflächlich.“
Die CSU ist in Augsburg offener als woanders
Ein beachtliches Fazit für einen hochrangigen CSU’ler. Tatsächlich ist die CSU in Augsburg offener als woanders. Schon in den 1970ern gab es eine Strömung in der Jungen Union, die sich für eine Beschäftigung mit Brecht einsetzte. Doch muss die Frage erlaubt sein, inwieweit hier eine Vereinnahmung eines Autors geschieht, der sich zeitlebens von unserem Wirtschaftsmodell distanzierte. Eine solche politische Vereinnahmung findet immer statt, wenn ein Thema attraktiv ist, glaubt Buchhändler Kurt Idrizovic: „Die größte Vereinnahmung, und die überraschendste, geschah 1998 durch Ministerpräsident Edmund Stoiber, der hier im Goldenen Saal die Eröffnung des Brechtfestivals vorgenommen hat und in seiner Rede den Brecht zu einem bayerischen Dichter umgewidmet hat, was völlig absurd ist.“
Die Vereinnahmung ging beim letztjährigen Brechtfestival weiter. So sagte der CSU-Fraktionsvorsitzende Kränzle bei der erwähnten Podiumsdiskussion Folgendes: „Der demokratische und soziale Rechtsstaat, den Brecht sich gewünscht hat, den haben wir nun.“ Dennoch: Anscheinend geht es der CSU nicht nur um Vereinnahmung. „Die CSU hat sich Brecht nicht in einer billigen Weise zu eigen gemacht – die haben sich ernsthaft mit zentralen Thesen auseinandergesetzt“, sagte Frank Mardaus, damals kulturpolitischer Sprecher der SPD, schon vor einem Jahr, als die SPD noch in der Opposition war. Über die Motive für den Wandel kann nur spekuliert werden. Michael Friedrichs, alleiniger Redakteur des Dreigroschenheftes, zieht ein kleines Fazit: „Der Umschlag ist zwar passiert, aber es ist noch ein Spannungsverhältnis da. Es ist schwer rauszukriegen: Wird Brecht als Stadtmarketingfigur gesehen, oder wird er seiner literarischen Qualiät wegen geschätzt? Ich glaube, das vermischt sich sehr stark.“
Votteler: „Es gibt niemanden, der eine Vereinnahmung oder überhaupt eine Definition dieses Autors wagen würde“
Und dann gibt es in Augsburg noch die tiefer gehende Brecht-Rezeption, also jene Menschen, die analog zur Forderung von Helmut Koopmann nicht wollen, dass Brecht und sein Festival allen nur gefallen. Sie wollen Brecht nicht als Everybody’s Darling, sondern mehr Reibung, sagt Juliane Votteler, Intendantin des Augsburger Stadttheaters: „Es finden sehr eloquente und sehr differenzierte Diskussionen statt. Bei den Leuten, mit denen ich differenziert und intellektuell über Brecht spreche, gibt es niemanden, der eine Vereinnahmung oder überhaupt eine Definition dieses Autors wagen würde.“
Doch die Theaterintendantin weiß auch: Im politischen Raum ist es undenkbar, dass es ohne solche Vereinnahmungen eines berühmten Sohnes der Stadt abgeht. In Augsburg muss da auch die Linke Partei aktiv werden. Sie entwarf dabei für die Kommunalwahlen im März 2014 das vielleicht schönste Wahlplakat aller Zeiten. Kein markiger Spruch prangt da, kein großer Kopf grinst herab – nein, es ist ein Stillleben, noch dazu in angenehmen Pastelltönen. Abgebildet ist in Nahaufnahme ein zerkratzter Holztisch, auf dem eine Brille mit runden Gläsern sowie eine brennende Zigarre auf einer Untertasse liegen, dazwischen ein Notizzettel. Das Bild mit seiner unausgesprochenen Reminiszenz an Brecht ist aber auch die wohl unverschämteste Vereinnahmung, die je auf einem Wahlplakat betrieben wurde. Auf dem abgebildeten Zettel steht nämlich als Notiz an sich selbst: „Die Linke wählen!!!“
Linke-Kreisvorsitzender Otto Hutter rechtfertigt das als Reaktion auf das Brechtfestival 2012, dessen Überthema „Brecht und Politik“ war: „Der Tenor war eine Entpolitisierung von Brecht: Er sei überhaupt kein Kommunist gewesen. Damit sind wir natürlich überhaupt nicht einverstanden. Wir lassen uns den Brecht nicht einfach wegnehmen und als bloßen Unterhaltungskünstler präsentieren.“
War Brecht Kommunist? Das ist eine Frage der Definition. Sicherlich hat er mehrmals seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass Kapitalismus den Krieg aller gegen alle bedeutet und auch zu imperialistischen Kriegen führen muss. In der DDR jedoch sei Brecht niemals heimisch geworden, und das Regime habe er auch nicht ernst genommen, sagt Brechtforscher Jan Knopf. Der Sozialismus der DDR sei für Brecht eine Fehlgeburt gewesen, die schon von Beginn an historisch überholt gewesen sei. Zum Vorwurf, Brecht als großen Unterhalter darzustellen, sagt Knopf, Brecht habe keinen Gegensatz zwischen unterhalten und politisieren gemacht: „Er wollte das Vergnügen – aber kein vordergründiges. Reines Vergnügen, so hat er es wortwörtlich formuliert, hinterlässt Katzenjammer.“
Wie es mit dem Brecht-Vergnügen in Augsburg langfristig weitergeht, ist unklar. Festivalleiter Lang hat kürzlich nur noch für 2016 den Zuschlag bekommen, zu groß war inner- wie außerhalb des Stadtrats der Ruf nach einer Ablösung und einem neuen Konzept.
Auch im lokalen Bertolt-Brecht-Kreis wurde über die Zukunft des Brechtfestivals gestritten. Der 1984 gegründete Verein verzeichnete deshalb gegen Ende vergangenen Jahres innerhalb von vier Wochen einen Mitgliederanstieg von 48 auf 63 (früher waren es schon mal mehr als doppelt so viele gewesen), wie der im Januar bei einer „Kampfabstimmung“ wiedergewählte Vorsitzende Michael Friedrichs berichtet. Dort gebe es nun um den weiteren Umgang mit Brecht und die Aktivitäten des Vereins „eine Diskussion, die wir so in Augsburg noch nie hatten“, wie der Buchhändler Kurt Idrizovic sagt.
Bertolt Brecht sorgt also auch in der Stadt seiner Kindheit, Jugend und ersten literarischen Betätigung wieder für viel Wirbel. Der verlorene, lange Zeit so verschmähte Sohn Augsburgs ist zurück.