Schauspiel
“Gas” im Gaswerk: Vorgriff auf die virtuelle Welt
Mit der Aufführung der Gas-Trilogie von Georg Kaiser eröffnete das Staatstheater Augsburg seine Schauspiel-Spielzeit auf bemerkenswerte Weise. Ein Nachtrag
Halrun Reinholz
Das Improvisieren gehört zum Theater. Das Theater Augsburg musste in der letzten Spielzeit durch die abrupte Schließung der Hauptspielstätte besondere Improvisationskünste entwickeln, was nicht geschadet hat, denn auch die geordnete Improvisation für die Sanierungsdauer stellt André Bücker und sein Team vor Herausforderungen. Die Spielstätte auf dem Gelände des Gaswerks ist noch nicht fertig, die Brechtbühne aber bereits geschlossen. Es gibt also ein Interim im Interim und das heißt “Kühlerhaus” und befindet sich ebenfalls auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks. Eine einmalige Gelegenheit, die Trilogie „Gas“ des expressionistischen Autors Georg Kaiser mal auf einem authentischen Schauplatz aufzuführen. Regisseurin Antje Thoms hat aus der Not eine Tugend gemacht, ein berührendes und irgendwie lebensnahes Theatererlebnis.
Denn im Kühlerhaus ist nichts umgebaut. Man hat tatsächlich den Eindruck, dass die Arbeiter das Gelände gerade erst verlassen haben. Auch das „Foyer“, die Halle daneben, ist gleichzeitig Kartenverkauf und Künstlergarderobe, alles zwischen irgendwelchen herumstehenden Maschinenteilen. Der Glühweinverkauf in der Pause des gut drei Stunden dauernden Stückes ist im übrigen gerechtfertigt, trotz der wärmenden Decken, die auf den Stühlen bereit liegen.
Doch was für eine Kulisse für so ein Stück! Kaiser, Zeitgenosse von Brecht, war von ähnlichen Themen beseelt: die Fragen von Kapitalismus und Gerechtigkeit, von Proletariat und Prekariat. Deutliche Anklänge an heutige Zustände ergeben sich von selbst, obwohl – oder gerade weil – die Regisseurin es bewusst in der Zeit um den Ersten Weltkrieg spielen lässt, wie von Kaiser vorgesehen. Es handelt sich letztlich um eine Familiensaga über drei Generationen, die alle daran scheitern, das beste Konzept für ein gerechtes und glückliches Leben zu entwickeln.
Der erste Teil der Trilogie, „Die Koralle“ ist am besten ausgearbeitet. Der Milliardär (alle Figuren sind namenlos, daher als Typen angelegt), Inhaber einer Gasfabrik, hat sich aus prekären Verhältnissen hochgearbeitet. Am „offenen Donnerstag“ empfängt er ausgewählte Bittsteller, die er großzügig unterstützt. Dennoch muss er sich von Sohn und Tochter vorwerfen lassen, dass er sein Geld durch Ausbeutung verdient hat. Sie wenden sich von ihm ab und entscheiden sich, unter den Arbeitern zu leben.
Konsequenterweise ist der Milliardärssohn im zweiten Teil Arbeiter in seiner Fabrik, wo alle gleichermaßen am Gewinn beteiligt sind. Durch eine Explosion, deren Ursache letztlich nicht geklärt werden kann, wird die Fabrik zerstört. Die Arbeiter fordern den Wiederaufbau, damit sie wieder arbeiten können, aber gleichzeitig wollen sie auch die Entlassung des Ingenieurs, den sie für den Schuldigen an der Explosion halten. Der Milliardärssohn hat aber eine andere Vision: Statt das Werk wieder aufzubauen, will er auf dem Gelände Wohnungen für die Arbeiter bauen.
Im dritten Teil ist das Werk verstaatlicht, der Kriegszweck erfordert, dass Giftgas hergestellt wird. Der Milliardärsenkel, dritte Generation, scheitert daran, das Erbe wieder zum Wohl der Belegschaft zu verwalten. Um die Atmosphäre ohne Umbauten oder Bühnenbild in Szene zu setzen, lässt sich die Regisseurin, die auch für die Kostüme verantwortlich ist, zusammen mit der Bühnenbildnerin Ute Radler einiges einfallen. Die Mitte des Kühlerhauses nimmt ein großer Gasbehälter ein (den man gut auch für ein Relikt aus der aktiven Zeit des Gaswerks halten kann). Auf diesem Teil und rundherum spielt sich alles ab, einiges aber draußen und das wird über die Kopfhörer, die jeder Zuschauer zu Beginn der Vorstellung bekommt, ins Stück geholt. Zusätzlich spielen sich Szenen vor den großen Fenstern der Halle ab, die man schemenhaft sehen und über die Kopfhörer erleben kann. Ein gelungener Vorgriff auf die virtuelle Welt, der das Spiel lebensecht und intensiv erlebbar macht.
Die Vielschichtigkeit der Handlung erfordert zudem einen hohen Personalaufwand und eine leistungsfähige Maske. Die Statisterie ist bereits im Vorfeld im Einsatz, Bettler ziehen ihre Runde, Heilsbringer stehen da und man bekommt auch eine Kartoffelsuppe als „Arbeiteressen“ serviert. Danach ist die „Masse“ auch immer präsent zwischen den Zuschauerreihen, skandierend, flüsternd („Gas“), auch singend.
Das Schauspielteam bewältigt alle (durchwegs textstarken) Rollen mit wandlungsfähiger Bravour und in einem intensiven Zusammenspiel, wobei besonders Sebastian Müller-Stahl im zweiten Teil eine tragende Rolle zukommt. Geschickt wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer an wechselnde Orte gelenkt – zwischen Mitte, Galerie und Emporen des Raums, was besonders im letzten eher textintensiven Teil ohne überzeugende Handlung nötig ist. Das gilt auch für das „proletarische“ Begräbnisritual zum Schluss. Ein finales Scheitern, das sehr symbolträchtig zelebriert wird. – Ein großer, ein erlebenswerter Theaterabend. Weitere Vorstellungen sind am 2.Dezember 2018 (18 Uhr) sowie am 8.,19. und 29. Dezember jeweils 19.30 Uhr.