Die andere Friedensstadt: Osnabrück
Das Augsburger Hohe Friedensfest hat seinen Ursprung im Westfälischen Frieden, der im Jahr 1648 in den westfälischen Städten Münster und Osnabrück geschlossen wurde und den Dreißigjährigen Krieg offiziell beendete. Verkündet wurde der Frieden vom Osnabrücker Rathaus aus. Heute bezeichnet sich die Stadt Osnabrück als „Friedensstadt“, die im Andenken an das historische Datum jedes Jahr einen „Friedenstag“ feiert und ein „Fest der Kulturen“. Alle zwei Jahre verleiht die Stadt Osnabrück einen Friedenspreis. In diesem Jahr auch an die Organisation „Sea-Watch e.V.“, die im Mittelmeer Menschen rettet.
Von Bernhard Schiller
Am 29. November 2019 verleiht die Stadt Osnabrück den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis an den kenianischen Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o, dessen Schriften von den bis heute fortbestehenden Folgen der Kolonisierung Afrikas handeln. Den Sonderpreis des Osnabrücker Friedenspreises erhält zugleich die Organisation „Sea-Watch e.V.“ Damit will die Stadt Osnabrück das „zivile Engagement zur Seenotrettung von Flüchtenden“ ehren und „das Eintreten für legale Flucht- bzw. Einreisewege“ sowie „Forderung nach einer Rettung in Seenot geratener Flüchtender durch die zuständigen europäischen Institutionen“ würdigen.
Im August 2018 schloss sich die Stadt Osnabrück mit großer Ratsmehrheit der Initiative “Seebrücke” an, indem sie sich unter anderem bereit erklärte, aus Seenot gerettete Menschen „direkt aufzunehmen und unterzubringen“. Vor wenigen Wochen antwortete der Osnabrücker Oberbürgermeister, Wolfgang Griesert (CDU), dann auf einen offenen Brief der Seebrücke, indem er zusicherte, eine Flüchtlingsfamilie vom Rettungsschiff Sea-Watch 3 aufzunehmen, sofern ihm die Bundesregierung dabei entgegenkomme.
Er sei „davon überzeugt“, so Griesert in seinem Brief an die Seebrücke, „dass drängende humanitäre Probleme in der Regel nicht sofort juristisch zu lösen sind“. Ein Friedensvertrag, zwei Friedensstädte, zwei unterschiedliche Sichtweisen. Die Differenz zwischen Osnabrück und Augsburg bezüglich des Umgangs mit dem aktuellen Phänomen der Seenotrettung ist frappierend. Grund genug für eine DAZ-Recherche in der Friedensstadt Osnabrück. Der Osnabrücker Stadtsprecher Dr. Sven Jürgensen hat Bernhard Schiller von der Haltung seiner Kommune in den Spannungsfeldern zwischen Symbol- und Realpolitik, Recht und Moral, Vergangenheit und Gegenwart erzählt.
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DAZ: Herr Dr. Jürgensen, die Stadt Osnabrück wird in diesem Jahr den Sonderpreis des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises an den Verein “Sea-Watch e.V.” verleihen. Ist das nicht eine mutige Entscheidung?
Dr. Sven Jürgensen: Sie ist insofern mutig, als sie in eine aktuelle Debatte eingreift, Stellung bezieht und dadurch die humane Komponente der Seenotrettung betont.
DAZ: Gegen die Aktivisten auf den Schiffen vor Nordafrika wird häufig der Vorwurf erhoben, sie würden die illegalen Machenschaften der Schlepper unterstützen. Machen Städte, die sich an der Initiative „Seebrücke“ beteiligen, nun mit den Schleppern gemeinsame Sache?
Dr. Sven Jürgensen: Die Städte, die sich engagieren und die Ehrenamtlichen unterstützen, möchten, dass die Menschen in Not nicht vergessen werden. Sie wollen den Flüchtlingen helfen und sie wollen, dass Europa eine Lösung anbietet.
DAZ: Wir haben erfahren, wie Ihre Stadt mit den Anliegen der “Seebrücke” umgegangen ist. Manche Forderungen der “Seebrücke” sind rechtlich strittig. Haben Sie gar keine Bedenken, wenn Sie Osnabrück zur „Sicheren Hafenstadt“ erklären?
Dr. Sven Jürgensen: Solche Entscheidungen findet man nie bedenkenlos. Der Rat hat intensiv die Pro- und Contra-Argumente abgewogen und sich dann entschlossen, dass sich die Friedensstadt Osnabrück zur sicheren Hafenstadt erklärt. Die Entscheidung des Rates bewegt sich im rechtlichen Rahmen, eine mögliche Aufnahme wird über das Land beziehungsweise den Bund reguliert.
DAZ: Ist das nicht Symbolpolitik? Vereint diese Proklamation die Stadtgesellschaft oder teilt sie eher? Welche konkrete politische Wirkungskraft haben Kommunen in diesem Zusammenhang überhaupt?
Dr. Sven Jürgensen: Es geht natürlich zunächst um ein Symbol, immerhin ein starkes Symbol, das mit dem Angebot verbunden ist, Menschen retten zu wollen. Wir wissen, dass wir nicht alle retten können, aber deswegen dürfen wir doch nicht ausweichen.Ist es etwa eine Option, keinen zu retten, weil wir nicht alle retten können? Wir dürfen uns mit der Situation, in der nach wie vor Menschen ertrinken, nicht abfinden und zur Tagesordnung übergehen. Außerdem haben Kommunen wie die Stadt Osnabrück bereits sehr vielen Menschen eine neue Heimat geboten und werden es weiterhin auch tun.
DAZ: Müssen die Probleme nicht auf ganz anderer Ebene gelöst werden?
Dr. Sven Jürgensen: Ja sicher, das fordern wir ja auch. Deswegen hatte der Rat der Friedensstadt schon im April 2015 nach einer Katastrophe im Mittelmeer, bei der nach damaligen Schätzungen bis zu 1000 Menschen ertrunken sind, einen Brief an den Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Stephan Weil geschrieben, um seine Bestürzung über die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer auszudrücken. In dem von 51 Ratsmitgliedern unterschriebene Brief heißt es:
„Wir wollen nicht glauben, dass unsere europäischen Institutionen zumindest das Leben dieser Menschen nicht hätten retten können. Wir wollen nicht akzeptieren, dass wir Europäer keine Alternative zu diesem fahrlässigen Tod haben, den wir durch unser Verhalten billigend akzeptieren. – Wir Europäer sind nicht nur Stolz darauf, dass die Europäische Union 2012 mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden ist, sondern sehen darin auch eine Verpflichtung zum Handeln. Wir sind stolz auf die uns verbindenden Werte der Humanität und Freiheit. Dafür stehen wir ein. Auf diese Werte beziehen wir uns, wenn wir, wie zahlreiche andere Städte auch, Flüchtlinge aufnehmen, sie zunächst versorgen, um sie so schnell wie möglich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Diese Menschen brauchen unsere Hilfe[…]“
Kommunen können nicht auf ganzheitliche Lösungen warten, wenn Menschen vor Ort auftauchen und nach Hilfe verlangen. Kommunen können sehr schwer die Augen verschließen und sagen, sie seien nicht zuständig, auch wenn sie in der Tat abhängig sind von politischen Lösungen auf Bundes- und EU-Ebene.
DAZ: In Osnabrück wurde der Westfälische Friede geschlossen, weshalb Ihre Stadt die Erinnerung daran als Auftrag für die Gegenwart begreift. Resultiert Ihr kompromissbereites Handeln gegenüber den verschiedenen Interessengruppen in der Flüchtlingsthematik aus dieser Erinnerung?
Dr. Sven Jürgensen: Mit dem Westfälischen Frieden ist sicherlich der Auftrag verbunden, auf den anderen zuzugehen, ihm zuzuhören, seine Position zu verstehen, um dann um das bessere Argument friedlich zu ringen. Bürgerschaftliches Engagement hat in der Friedensstadt Osnabrück einen hohen Stellenwert und eine stabile Tradition insbesondere übrigens auch bei kontroversen Fragen und Herausforderungen. Dieses gesellschaftliche Klima müssen wir bei allen Auseinandersetzungen unbedingt schützen.
DAZ: Es existieren ganz unterschiedliche Annahmen über die Bedeutung des Westfälischen Friedens. Zum Beispiel sehen Politikwissenschaftler darin den Beginn des modernen souveränen Nationalstaates. Historiker wenden dagegen ein, dass dies nicht die Intention des Friedenskongresses von 1648 war. Welche Bedeutung nimmt die “historische Wahrheit” des Westfälischen Friedens für die Agenda der “Friedensstadt Osnabrück” heute ein?
Dr. Sven Jürgensen: Was auch immer die Intention gewesen sein mag, die „List der Vernunft“ (Hegel) besteht doch darin, dass die Folgen weiter reichten als die Intention der beteiligten Mächte, die von der Einsicht ausgingen, dass der Krieg für keine Seite zu gewinnen war. Der pragmatische und zugleich hoffnungsvolle Geist der Verträge von 1648 bekundet sich etwa im Artikel I des Friedensvertrages, in dem festgehalten ist, dass „aufrichtige Freundschaft herrschen solle[…], auf dass jeder Teil Nutzen, Ehre und Vorteil des anderen fördere und dass […] treue Nachbarschaft, wahrer Friede und echte Freundschaft neu erwachsen und erblühen möge.“ Was da gefordert wird, ist doch unglaublich und beispielhaft: Diejenigen, die sich in den langen Jahren des Krieges den Tod an den Hals wünschten und auf grausamste Weise entgegengeschleuderten, sollten nun nicht nur auf das eigene Wohlergehen bedacht sein, sollten nicht mehr nur friedlich neben den früheren Feinden leben, sondern sollten sich sogar auch noch für deren Wohlergehen einsetzen, auf dass echter Friede und Freundschaft erblühte! Dass Todfeinde sich auf eine solche Formulierung einigen konnten, grenzt doch an ein Wunder! Denn das forderte viel, das forderte von allen alles, nämlich die vollständige Um- und Abkehr von allem, was in den vorausgegangenen 30 Jahren gegolten hat. Das ist wahrer Mut!
DAZ: Entwidmen Sie nicht den historischen Kern der „Friedensstadt Osnabrück“, wenn Sie sich bereit erklären, aus dem Mittelmeer gerettete Migranten aufzunehmen?
Dr. Sven Jürgensen: Entwidmen ist ein merkwürdiges Wort, das an dieser Stelle nicht zutrifft. Meines Erachtens kommt es darauf an, sich auf die Gegenwart des Historischen zu besinnen, um nicht halt- und kopflos durch die Welt zu rennen. Insofern widmen wir uns doch dem „historischen Kern“, wenn wir den Westfälischen Frieden als Auftrag verstehen und daraus auch unser gegenwärtiges Handeln ableiten. Man muss doch die Geschichte kennen, um die Gegenwart zu verstehen. Denn Frieden ist ein Postulat, das für alle Menschen gilt – unabhängig davon, wo sie oder ihre Eltern geboren sind. Also auch für Flüchtlinge! Der in Osnabrück geborene Schriftsteller Erich Maria Remarque, der mit seinem Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ weltberühmt wurde, war auch ein Flüchtling und hat in vielen Texten genauso wie Hannah Arendt in ihrem englischsprachigen Essay „we refugees“ von 1943 genau diesen Kern herausgearbeitet: wie es ist, alles zu verlieren, insbesondere die Sprache, aber auch sogar die Mimik.
DAZ: Haben Sie schon über eine Kooperation zwischen den beiden Friedensstädten Osnabrück und Augsburg nachgedacht?
Dr. Sven Jürgensen: Das ist eine schöne Idee, über deren konkrete Ausgestaltung wir nachdenken sollten. Wenn etwa ein Augsburger Delegation uns zum Steckenpferdreiten besuchen würde, mit dem alle Osnabrücker Grundschüler an die Verkündigung des Westfälischen Friedens am 25. Oktober 1648 erinnern, könnte ein Gegenbesuch in der Friedensstadt Augsburg zu Ihrem Friedensfest erfolgen.
DAZ: Herr Jürgensen, vielen Dank für das Gespräch. ————– Fragen: Bernhard Schiller