Sechs Monate Lockdown in Argentinien: Augsburger Studentin sitzt in Buenos Aires fest und berichtet über die Folgen
Wie die Regierungen weltweit auf die Corona-Krise reagiert haben, diktiert das Leben der Menschen. Und diese bestimmen wiederum, wie lange sie sich daran halten. Welche Auswirkungen eine monatelange Quarantäne auf Psyche, Wirtschaft und Sicherheit in Argentinien hat, berichtet die Augsburger Studentin Annika Kögel vor Ort aus Buenos Aires.
Ich war wohl eine der letzten Ausländer*innen, die Anfang März noch für ein Auslandssemester nach Argentinien einreisen durften, bevor überraschenderweise der Flughafen geschlossen und eine noch immer andauernde Ausgangssperre verordnet wurde. Mittlerweile hat Regierungschef Alberto Fernández diese zum zwölften Mal verlängert. Damit sitzen wir in Argentiniens Hauptstadt bereits 200 Tage in unseren Häusern fest. Zumindest mehr oder weniger. Während die Isolierungsmaßnahmen der Regierung anfangs nämlich noch einen Zuspruch der Bevölkerung von 80 Prozent erhielt, und da man monatelang nicht einmal für einen Spaziergang das Haus verlassen durfte, begann die Geduld der Argentinier zu bröckeln, die Angst vor dem Virus zu sinken. Seit ungefähr einem Monat – sieht man wieder Menschen in den Parks den berühmten argentinischen Mate Tee trinken. Die anfänglich angedrohten Geld- und Haftstrafen für Verstöße gegen die Ausgangssperre werden schon lange nicht mehr durchgesetzt. Wie auch – kaum jemand hier könnte sich eine Geldstrafe leisten, und die Gefängnisse waren bereits vor Corona so überfüllt, dass Tausende Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen wurden.
Die „Quarantäne-Müdigkeit“ nach fast einem halben Jahr Quarantäne tritt genau jetzt ein, wo die Infektionszahlen Rekorde schreiben: Bereits mehrmals gab es die letzten Wochen innerhalb von 24 Stunden 12.000 neue Infizierte. Schutzmaßnahmen werden – abgesehen von der Maskenpflicht, die hier sehr ernst genommen wird – hauptsächlich nur noch dort eingehalten, wo die Regierung sie durchsetzen kann: Schulen, Universitäten, Flughäfen, Innenbereiche in Restaurants und Bars und Fitnesscenter sind nach wie vor geschlossen. Öffentliche Verkehrsmittel und Autos dürfen nur von Arbeitern benutzt werden, die eine Genehmigung besitzen. Ich kann in meiner Wohnung keinen Besuch empfangen, da mein Gebäude Tag und Nacht von Security Personal überwacht wird, das aufgrund von „Social Distancing“ nur Anwohnern Einlass gewähren darf. Als ich auf unserer Terrasse Sonne tanken wollte, wurde mir gesagt, dass dies noch immer nicht erlaubt sei. Wirklich verstehen kann ich daher Demonstrationen in Deutschland, wo die Restriktionen der Regierung vergleichsweise gering sind, nicht.
Was ist schlimmer – das Coronavirus oder die Folgen der endlosen Quarantäne?
Die nun auf dem Infektionshöhepunkt erstmals genehmigten Lockerungen bezüglich der Kontaktbeschränkungen – seit kurzem kann man sich zumindest draußen mit Abstand und Maske erstmals mit Personen treffen – waren in wirtschaftlicher Hinsicht dringend nötig. Bereits über 42.000 Unternehmen mussten durch die Pandemie schließen, das Land macht wirtschaftlich die schlimmste Zeit seiner Geschichte durch. Argentinien ist international als zahlungsunfähig eingestuft und Corona-Hilfsmaßnahmen finden lediglich durch die Notenpresse statt.
Die Folgen bekommen alle zu spüren: Ständig steigende Preise im Supermarkt, Jobverluste, und eine Armut, die bis zum Jahresende 60 Prozent erreicht und wiederum einen hohen Anstieg der Kriminalität hervorrufen soll. Ein Zettel an der Tür einer Bar mit der ironischen Aufschrift „Wir dürfen noch immer nicht wieder öffnen! Egal ob wir am Hunger, an Depression und Suizid, oder einem Infarkt sterben, egal ob wir unsere Geschäfte endgültig schließen müssen und alle zum Diebstahl auf die Straßen gehen – das Wichtige ist, dass wir nicht am Coronavirus sterben!“ ging vor einigen Monaten durch die sozialen Medien.
Nicht geringer sind die Auswirkungen, die eine so lange Quarantäne auf die Psyche hat. Zwei Drittel der Argentinier leiden unter Schlafproblemen, und die Zahl der Depressionen hat sich verfünffacht. Weniger Sport, dafür mehr Alkohol, Psychopharmaka und Gewichtszunahme sind weitere Folgen der Isolation, wie die DW berichtet. Ebenso hat die Anzahl der ermordeten Frauen in ganz Lateinamerika während der Quarantänen erheblich zugenommen.
Da ich die letzten Monate mein (Online-)Auslandssemester gemacht habe und ich mich nun mit meinem neuen (Online-)Job als Deutschlehrerin beschäftigen kann und ab und zu meine Freunde sehe, habe ich die Quarantäne bisher gut überstanden. Weil ich weiß, dass wir alle in derselben Situation stecken. Niemand kann einfach so raus und am Wochenende tanzen gehen, nicht nur ich. Das erste Mal allein gefühlt habe ich mich tatsächlich dann, als die Bars kürzlich nach einem halben Jahr ihre Außenbewirtung öffneten und meine Freunde ein Treffen organisiert haben. Ich war zu dem Zeitpunkt mit Fieber und Mandelentzündung im Bett und wartete auf das Ergebnis meines Corona-Tests. Ein Testergebnis – welches mir laut Arzt binnen 24h mitgeteilt werden sollte – habe ich nach drei Wochen immer noch nicht erhalten, weiß aber durch die Kontakte eines Freundes, dass es negativ ausgefallen ist. Einer meiner besten Freunde hier, der als Krankenpfleger mit COVID-19 Patienten arbeitet, wurde jedoch gerade tatsächlich positiv getestet und kuriert sich von seinen unendlich langen Krankenhausschichten aus.
Fallzahlen nicht niedriger, nur später
Unrealistisch ist es nicht mehr, sich zu infizieren. Wir sind mittlerweile unter den Top 10 der Länder mit den höchsten Infektionszahlen und 85 Prozent der Fälle Argentiniens konzentrieren sich dabei allein auf die Metropolregion Buenos Aires, die mit ihren 15 Millionen Einwohnern ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht. In den ersten Regionen sind nun die Betten in den Intensivstationen vollständig ausgelastet. Bisher gab es keine Probleme mit überfüllten Krankenhäusern. Da in den ersten Monaten die Quarantäne strikt eingehalten und nur wenige Fälle verzeichnet wurden, hatte das Land Zeit, sich vorzubereiten und auszurüsten. Viele Ansteckungen gehen jedoch auf Armenviertel zurück, in denen Menschen dicht an dicht leben. Die Regierung hat für diese Menschen im Falle einer Infektion Auffangzentren errichtet um eine Isolierung zu garantieren.
In was für einer beispiellosen Situation wir uns gerade befinden, wurde mir persönlich bewusst, als mir ein Freund schrieb, dass ich mir die schlechteste Zeit meines Lebens ausgesucht habe, um ins Ausland zu ziehen. Meines Lebens! Und er hat wahrscheinlich Recht – ein vergleichbares Erlebnis wie eine globale Pandemie ist wohl kaum jemanden unserer Generation bisher widerfahren. Man hat sich nur Stück für Stück, Woche für Woche, mehr in die Ausnahmesituation eingelebt und gelernt, sie zu akzeptieren.
Ich bin froh, dass ich in den ersten Wochen der Ausgangssperre – die eben auch meine ersten Wochen in Argentinien waren- noch überzeugt davon war, dass es sich um einen temporär sehr begrenzten Zustand handelt. Dennoch unglaublich, wie traurig ich damals wegen zwei Wochen war. Mittlerweile habe ich beschlossen, länger hier zu bleiben, das Beste aus der Situation zu machen und die Chancen zu sehen, die die unerwartete Situation mit sich gebracht hat. In das Land habe ich mich trotz Einschränkungen bereits schon lange verliebt. Und gerade hat hier der argentinische Frühling begonnen.