DAZ - Unabhängige Internetzeitung für Politik und Kultur
Sonntag, 24.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Nachruf

Nachruf auf Karl Ganser

Karl Ganser, der Bambusstab und das Welterbe

Ein Nachruf von Martin Kluger

Karl Ganser 2019 – Foto: privat

Prof. Karl Ganser ist tot. Dass jemand im Alter von knapp 85 Jahren stirbt, ist durchaus vorstellbar. Bei Karl Ganser, geboren am 15. September 1937 in Mindelheim und gestorben am 21. April 2022 in seinem Heimatdorf Breitenthal nahe Krumbach, fällt die Vorstellung, dass er nicht mehr da sein soll, freilich schwer. Doch wenn Bert Brecht recht damit gehabt haben sollte, dass der Mensch erst wirklich tot ist, wenn niemand mehr an ihn denkt, dann ist Karl Ganser eigentlich – auf absehbare Zeit und vielleicht auch noch ein bisschen darüber hinaus – nicht wirklich tot. In Fachkreisen ohnehin nicht, denn so ganz ohne Grund wird man nicht mal eben so Ministerialdirigent, Dr. rer. nat., Dr. habil., Dr. h.c. und am Ende auch noch der „Architekt des neuen Ruhrgebiets“.

Dass er sich international einen Namen gemacht hat, zeigt etwa der 2006 an ihn verliehene Preis der Obayashi Foundation Tokyo für zukunftsfähige Stadtentwicklung. Und würde man an dieser Stelle all die Ehrungen aufzählen, die er sich unter anderem als Abteilungsleiter im Städtebauministerium des Landes Nordrhein-Westfalen oder als Geschäftsführer der Gesellschaft Internationale Bauausstellung Emscher Park mbH, zuvor mit einer außerplanmäßigen Professur an der TU München oder später als Vorstand des Deutschen Architektur Zentrums in Berlin, erworben hat, dann wäre dieser Nachruf allein mit dieser Auflistung – und zwar überaus imponierend lang – verfasst.

Ich möchte es aber persönlicher angehen, und das auch etwas stärker mit Blick darauf, was Karl Ganser für Augsburg geleistet hat, von dessen Gaswerk im Stadtteil Oberhausen er bis zuletzt fasziniert war. Ich will gar nicht so genau wissen, wen er alles mit seinen Vorstellungen zum Erhalt dieses Denkmalensembles gestört, getriezt und genervt hat, denn das hat er ganz bestimmt. Karl Ganser brannte für die Industriekultur – für die im Ruhrpott ebenso wie für die in der ehemaligen Industriestadt Augsburg. Es tat das mit großem Selbstbewusstsein, souverän, kantig und gallig in seinen Formulierungen, Forderungen und Kommentaren. Zum faltenfrei gebügelten, möglichst diskussionsfreien und konsensvergewaltigten Augsburger Polit- und Stadtverwaltungsgetriebe – wo Herzblut, Leidenschaft oder gar Fachkenntnis nicht selten als brüskierende Störung empfunden werden – passte einer wie Karl Ganser wie die Faust aufs Auge. Es tat weh. Er tat weh. Und das war auch gut so. Weiß der Himmel, was ohne seine nervenden Einwürfe aus dem Gaswerk Augsburg-Oberhausen geworden wäre. Vielleicht dasselbe, eher aber nicht.

Seine monolithische Autorität zu übergehen, wäre jedenfalls nicht ganz einfach gewesen. Diese Autorität und sein untrügliches Gespür für die großen Zusammenhänge (Details waren seine Sache eher nicht, für die hatte er wohl immer jemanden, dem oder der er vertraute) brachte Karl Ganser auch im Rahmen der Interessenbekundung der Stadt Augsburg zur Aufnahme ihrer historischen Wasserwirtschaft in die Liste des UNESCO-Welterbes ein. Nicht, dass er von dieser Idee maßlos überzeugt oder gar begeistert gewesen wäre: „Sein” Gaswerk hätte er zeitweilig wohl viel lieber auf der Welterbe-Liste gesehen als die Kanäle, Wassertürme und Monumentalbrunnen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man mit dem UNESCO-Welterbe-Titel für die Zeche und Kokerei Zollverein in Essen die Liste der deutschen Welterbe-Stätten ohnehin ganz und gar abschließen können. Dennoch konnte ich ihn dafür gewinnen, seine Reputation und sein Gewicht in der Fachwelt für Augsburg einzubringen. Als am 2. November 2013 ein Dutzend Mitglieder des Fachbeirats, den die Kultusministerkonferenz zur Evaluierung der aus Deutschland eingereichten Interessenbekundungen berufen hatte, informierte er als „Frontmann” und führte in den fix eingeräumten zwei Stunden zu den Denkmälern der historischen Wasserwirtschaft.

Der Verlauf der einleitenden Präsentation im Augsburger Maximilianmuseum zu diesem Termin verrät viel darüber, was für ein Typ Karl Ganser war. Der Ablauf dieser Präsentation und der anschließenden Begehung war minutiös geplant worden (zwei Stunden können knapp sein im samstäglichen Einkaufsverkehrsstau), wir hatten schicke Folien vorbereitet und einen Laserpointer bei der Hand, mit dem Karl Ganser auf entscheidende Punkte auf der Leinwand hinweisen sollte. Aber solch neumodischer Schnickschnack war Gansers Sache nicht. Er bestand darauf, dass wir ihm einen Bambusstab aus dem Baumarkt organisieren sollen. Und so kam es: Karl Ganser referierte per Zeigestöckchen vor der international besetzten Abordnung der Experten und Expertinnen. Jeden anderen hätte man für verrückt erklärt – ihn nicht. Ganser, der bis an sein Lebensende nichts von E-Mail-Verkehr und Internet wissen wollte und im Kopf doch beweglicher war als die meisten 20- bis 30-Jährigen, präsentierte ebenso aus der Zeit gefallen wie souverän und selbstverständlich mit einem Bambusstab (120 Zentimeter lang, Durchmesser zirka acht Millimeter).

Von Schnickschnack und Pillepalle-Design hat sich einer wie Karl Ganser nie ablenken lassen: Er nutzte seinen Kopf lieber für das große Ganze und die große Linie. Dass das klappen würde mit der Augsburger Welterbe-Bewerbung war dann schon auf dem Weg ins historische Wasserwerk am Hochablass ziemlich klar, in dem am Ende der Form halber noch ein bisschen diskutiert und gefachsimpelt wurde. Soll ich ihm verübeln, dass er in diesem erlauchten Kreis knurrig an meiner Idee zweifelte, auch die außerhalb der Stadtgrenzen gelegenen Wasserkraftwerke in Gersthofen, Langweid und Meitingen unter den welterbewürdigen Denkmälern der Augsburger Wasserwirtschaft aufzulisten? Ach was. Einem Karl Ganser konnte man nichts verübeln, dafür war er einfach zu wertvoll und zu gut. Und: Wenn er ab und zu doch auch mal daneben lag, machte ihn das nur menschlicher.

Und der Bambusstab? Der nimmt heute einen Ehrenplatz in meinem Büro ein. Das Augsburger Welterbe-Zentrum bekommt dieses nicht ganz unwesentliche Werkzeug auf dem Weg zum UNESCO-Welterbe jedenfalls nicht. Für mich ist diese „Quasi-Reliquie” nämlich ein stets präsentes Erinnerungsstück, das mich immer wieder an Karl Ganser denken lässt – den Mann mit dem Bambusstöckchen, dem klaren Kopf und der brennenden Liebe für die Industriekultur und die Technikdenkmäler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Einer wie er wird fehlen, gerade in Augsburg.