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Samstag, 23.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Staatstheater

Frankenstein auf der Brechtbühne: KI und die Unmittelbarkeit der Apokalypse

von Halrun Reinholz

Ein Stück, das bereits weit vor der Premiere restlos ausverkauft war, steht gerade auf dem Spielplan des Augsburger Theaters: Frankenstein, nach dem Roman von Mary Shelley. Woher diese Vorschusslorbeeren? Was fasziniert an diesem Stoff, diesem Schauermärchen aus dem Jahr 1818, und vor allem: Was hat er mit unserer Gegenwart zu tun?

Jan Langenheim als Regisseur hat sich mit der Dramaturgin Melanie Pollmann eine Theateradaption des sehr komplexen Romans ausgedacht. Nicht zum ersten Mal wurde das versucht: Immer wieder war Frankenstein präsent auf den Bühnen und in Verfilmungen. Die Faszination des Stoffes ist groß und Frankenstein gilt im kollektiven Bewusstsein als das Monster schlechthin. Die „Kreatur“, wie er – oder vielmehr sie – in der Augsburger Inszenierung wiederholt genannt wird.

"Frankenstein" - Foto: Jan-Pieter Fuhr

“Frankenstein” – Foto: Jan-Pieter Fuhr

Der Wechsel von Rollen und Identitäten ist eines der zentralen Elemente dieses Theaterabends, denn hier wird nicht nur die Geschichte des Monsters erzählt, das der ehrgeizige Dr. Frankenstein in einer stürmischen Nacht in seinem Ingolstädter Labor aus Leichenteilen zusammenstellt. Als er erkennt, dass die Kreatur lebt, flieht er und überlässt sie ihrem Schicksal, wird von ihr zeitlebens verfolgt und kann seiner Verantwortung letztlich nicht entfliehen. Die Kreatur ist nämlich kein hirnloser Trampel, der ihm aus Bosheit nach dem Leben trachtet, wie so oft vereinfacht dargestellt, sondern ein intelligenter und beseelter Außenseiter, in diesem Fall eine Außenseiterin, die ihrem Schöpfer vor allem zum Vorwurf macht, dass sie sozial nicht kompatibel ist und ihn anfleht, eine weitere Kreatur zu schaffen, die mit ihr auf Augenhöhe ist.

Schon im Roman von Mary Shelley wird aber nicht nur die Geschichte der Welt von Frankenstein, seinem Freund und Gefährten Henri Clerval und seiner Verlobten Elisabeth erzählt, sondern auch die Entstehungsgeschichte des Romans selbst. Ein verregneter, apokalyptisch anmutender Sommer nach einem Vulkanausbruch im Jahr 1816, der vier exzentrische, kunstsinnige junge Leute in einer Villa am Genfer See zur Langeweile und damit zu einem Dichterwettstreit um die beste Gruselgeschichte in bewährter britischer Manier bringt. Mary Shelley, deren biographischer Hintergrund, eine früh verstorbene sehr feministische Dichterin als Mutter und ein radikalphilosophischer Vater,  mit thematisiert wird, bietet in diesem Wettbewerb die Geschichte von Frankensteins Monster an. Die bleibt unübertroffen, obwohl ihr Dichter-Mann Percy Shelley und der Dichterfürst Lord Byron, der Gastgeber dieses kuriosen Ferienaufenthalts, mit im Rennen sind.

Wandel der Rollen und Identitäten

Dass diese beiden Geschichten und die diversen Nebenstränge dennoch verständlich bleiben, liegt zu einem großen Teil an der Wandelbarkeit der insgesamt nur fünf Schauspielerinnen und Schauspieler. Mirjana Milosavjevic changiert zwischen der emanzipierten und schlagfertigen Mary Shelley und der in ihrer Psychologie facettenreichen „Kreatur“, Sebastian Müller-Stahl verkörpert den von Zweifeln getriebenen Victor Frankenstein ebenso brillant wie den überaus dekadenten Lord Byron, Julius Kuhn ist Henri Clerval, Frankensteins Jugendfreund, und Marys Ehemann Percy Shelley.   Jenny Langner schlüpft in eine Vielzahl unterschiedlichster Rollen, vor allem die der Verlobten Elisabeth, der Claire Clairmont im Dichterquartett der sizilianischen Villa, der Dichterin Mary Wollsonecraft, Mary Shelleys Mutter, aber auch in die eines in dicken Pelz gehüllten Polarforschers. Eine nicht unwichtige treibende Kraft am Rande, die die Handlung stets in neue Richtungen führt, ist der vielfältig agierende Gerald Fiedler, am Anfang in der Manier der Rocky Horror Picture Show humorig als Conférencier eingeführt, der das Publikum vorsorglich vor dem warnt, was gleich zu sehen sein wird und den Schlusspunkt setzt: „I warned you“. Die beiden Statisten, die dabei in Slapstick-Manier als „Stage Hands“ den Vorhang halten, sind da noch die am wenigsten originelle Idee des Regisseurs.

Bühnentechnik für künstliche Gegenwart

Der schnelle Wechsel zwischen den Ebenen und Geschichten, die nicht linear erzählt werden, gelingt nur mit Hilfe einer ausgetüftelten Bühnen- und Videotechnik, für die Thies Mynther verantwortlich ist, ebenso wie für die Musik. Es wird immer wieder gesungen – nicht nur direkt und live, sondern auch über Chatbots und von den Avataren der Darsteller, die wie aus dem Nichts auf die Bühne projiziert werden. Den schnellen Rollenwechsel begünstigen auch die phantasievollen Kostüme und die Bühneneinrichtung (Anja Jungheinrich), die von einem angeschnittenen Riesen-Kopf dominiert wird, der wahlweise auch Berg oder Eisscholle ist.

Die dem Thema naheliegende künstliche Intelligenz wird nicht nur thematisiert, sondern in all ihren Facetten vorgeführt. Dadurch beantwortet sich die Frage auf fast beängstigende Weise von selbst, was Frankenstein und seine Kreatur für die Gegenwart bedeuten. Der uralte Traum vom selbst geschaffenen Menschen ist nicht ausgeträumt, die Umsetzung schon weit gediehen, aber die Grenzen und Schattenseiten dadurch umso sichtbarer. Und selbst die apokalyptische Klimakrise der Jahre nach dem Vulkanausbruch, die Mary Shelley in ihrem Roman eingehend schildert, kommt wie ein Déjà-vu daher. Bei alldem dominiert dennoch nicht die düstere Stimmung – der im besten Sinn britische Schauerroman hält durchaus auch komische Momente bereit, von denen sich einige in der Interaktion mit den Zuschauern abspielen – etwa, wenn Schweizer Schokolade herumgeworfen wird.

Vielleicht hat allein schon der Vorgeschmack auf diesen populären Stoff das Augsburger Theaterpublikum dazu veranlasst, sich unbesehen für das Stück zu entscheiden, obwohl die ambitionierte Inszenierung sich über fast drei Stunden hinzieht. Diejenigen, die im Besitz von Karten sind, werden dies aller Voraussicht nach nicht bereuen. Für alle anderen wird das Theater im Laufe der Spielzeit hoffentlich noch ein paar Zusatztermine freischaufeln. Wie man hört, wird es auch in der nächsten Spielzeit wieder aufgenommen.