Lyrik und Zeitzeugen am Tag der Befreiung
Im Kulturhaus abraxas wurde der Sieg über die Naziherrschaft gefeiert
Von Frank Heindl
Vor hundert Jahren wurde Selma Meerbaum-Eisinger geboren, im Februar 1924. 1941 schrieb sie ein „Poem“, dessen zentrale Zeile lautet: „Ich möchte leben“. Ein Jahr später, am 16. Dezember 1942, 18 Jahre alt, starb sie im rumänischen Zwangsarbeiterlager Michailowka. „Sie kommen dann und würgen mich“, ging ihr Gedicht weiter, und: „Über Nacht bin ich tot.“
Leben wollten sie alle, ermordet wurden sie zu Hunderttausenden, zu Millionen. Um an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern – oder doch an wenigstens einige wenige von ihnen –, um ein paar Namen dem Vergessen zu entreißen, wurde im Kulturhaus abraxas am Dienstagabend die Befreiung vom deutschen Nazitum gefeiert. Es war eigentlich ein Tag zu früh, denn die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches trat erst am 8. Mai 1945 in Kraft – doch auch die Unterzeichnung des Kapitulationsvertrags, vor 79 Jahren am 7. Mai 1945, ist Grund genug zum Feiern.
Musikalisch und textlich untermalt wurde der Abend vom Ensemble „Text will Töne”. Schauspielerin Karla Andrä hatte Gedichte von Opfern und Überlebenden des Holo-caust ausgewählt und trug sie zum angemessen ruhigen, einfühlsamen, aber gänzlich unkitschigen Sound von Josef Holzhauser (Komposition und Gitarre) und Johannes Ochsenbauer (Bass) vor. Gerald Fiebig, Leiter des abraxas, moderierte den Abend, kurze Beiträge gab es auch von Marcella Reinhardt vom Regionalverband der Sinti und Roma, von Vitaliy Levin, Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde, und von Kulturreferent Jürgen Enninger.
Nie mehr selbstverschuldet unmündig werden
Enninger erinnerte daran, dass am Tag der Befreiung die Erinnerung auch jenen gelten müsse, „die uns von der Schreckensherrschaft erlöst haben“ – und wies darauf hin, dass das abraxas, zu Nazizeiten erbaut, nach dem Krieg von den Befreiern, der US-Besatzungsmacht genutzt wurde. Mit Blick auf Immanuel Kant appelliert er, nie wieder dürften wir „selbstverschuldet unmündig werden.“.
Es folgten kurze Gespräche mit Zeitzeugen der Nazizeit. Der Sinto Hugo Höllnreiner berichtete von seinem gleichnamigen Großvater, der Auschwitz überlebt hatte. „Was wir erlebt haben“, so zitiert der Enkel ihn, „ist in unseren Seelen und geht nie mehr raus“. Höllnreiner freut sich, dass mittlerweile eine Straße in München nach seinem 2015 gestorbenen Großvater benannt wurde, eine weitere in Ingolstadt soll folgen.
Auch Henry Landman ist nicht mehr am Leben. Dem 1920 in Augsburg als Heinz Landmann geborenen Juden war nach einer Internierung im KZ Dachau die Flucht in die USA gelungen. Monika Müller vom Jüdischen Kulturmuseum zeigt ein von der Shoah Foundation 1996 aufgenommenes Interview, in dem Landman berichtet, wie er Augsburg kurz nach Kriegsende als Soldat wiedererlebte. Ergriffen erzählt er von seiner Rückkehr, von der verschwundenen Tante, von der zerstörten Stadt und der Wiederbegegnung mit Mitbürgern, die ihm vor seiner Flucht geholfen hatten.
Ein Leben lang die Frage: Was wird mit uns?
Am intensivsten zu berichten weiß der 1932 in München geborene Ernst Grube im Gespräch mit Carmen Reichert vom Jüdischen Museum. Als Sohn einer jüdischen Mutter und eines nicht-jüdischen Vaters wurde er von den Eltern getrennt und in ein Münchener Kinderheim verschleppt. 23 Kinder Betreuer und Betreuerinnen aus diesem Heim wurden 1941 in Litauen erschossen, Kolbe selbst kam über ein Lager in Milbertshofen schließlich ins Konzentrationslager Theresienstadt, wo er die Befreiung durch die Rote Armee erlebte. „Was wird mit uns sein?“ – an diese bange Frage erinnert sich Grube mehrmals im leider zu kurzen Gespräch. Er war ein zwölfjähriger Junge, als der das KZ verlassen konnte – doch das Thema beschäftigt den 91-Jährigen angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen auch heute wieder.
Darüber zu reden, was geschah, ist Grube wie vielen Überlebenden zeitlebens und bis heute ein Bedürfnis geblieben. Karla Andrä hatte das passende Gedicht zu diesem Bestreben zitiert. Von dem, was er in Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald erlebt hatte, wollte der Dichter Karl Schnog sich durch Erzählen befreien: „Erst, wenn ich sage, was ich sah, / Erst wenn ich schreibe, was geschah / Bin ich vom Schmutz gereinigt“ heißt es in seinem Gedicht „Nackte Aussage“. Sich über das „gute Ende“ aller Qualen am Tag der Befreiung wirklich zu freuen, gelang vielen NS-Opfern zunächst nur unter Schwierigkeiten – zu groß waren die Verluste, zu zahlreich die ermordeten Freunde und Verwandten. Die Freiheit hatte gesiegt, aber viel zu spät. Für viele dauerte es Jahrzehnte, bis sie den 8. Mai 1945 als wirkliche Befreiung sehen konnten wie die Dichterin Dagmar Hilarová, die von den Nationalsozialisten nach Theresienstadt verschleppt worden war. „Frühlingswind / Verwehte letzten Schmerz / Aus der Brust“, schrieb sie, „Es war Mai / Und alles erblühte zur Freiheit.“