Brecht-Preis für Nino Haratischwili
Am vergangenen Donnerstag erhielt die deutsch-georgische Schriftstellerin und Dramatikerin Nino Haratischwili den mit 15.000 Euro dotierten Bertolt-Brecht-Preis 2018 der Stadt Augsburg. Verliehen durch Dr. Stefan Kiefer, 3. Bürgermeister und Sozialreferent der Stadt Augsburg – im Goldenen Saal der Stadt Augsburg.
Von Siegfried Zagler
Andreas Platthaus, Leiter des Ressorts Literatur und literarisches Leben bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, trug eine Laudatio vor, die das literarische Werk von Haratischwili erhellend würdigte. Das Walter Bittner-Trio spielte eingangs, spielte in der Mitte und spielte am Schluss der Veranstaltung gefälligen mit O-Tönen Brechts unterlegten Jazz, sodass man zwischendurch beinahe hätte vergessen können, dass es um die Würdigung einer Autorin und um die Verleihung eines Literaturpreises geht. Mit Nino Haratischwilli hat sich die Jury immerhin für eine Autorin entschieden, die, würde es sie nicht geben, mit ihrem Werk für den Augsburger Brecht-Preis beinahe hätte erfunden werden können. Aus diesem Grund darf man an dieser Stelle die Augsburger Jury zu ihrer Entscheidung beglückwünschen, ohne dabei die Bemerkung auszusparen, dass der Brecht-Preis eben von seiner Jury in den letzten Jahren ziemlich heruntergewirtschaftet wurde. Bei der zurückliegenden Veranstaltung war es jedoch nicht der Preisträger, sondern der Aufritt der Stadt in der Vertretung von Dr. Stefan Kiefer, der in seiner durchschlagenden Niveauschwäche schwer zu nehmen war.
Am Ende hielt Nino Haratischwili eine bemerkenswerte Dankesrede, die zugleich eine Brandrede auf die deutsche Theaterlandschaft darstellt. Eine große Rede, die die Herzen der Zuhörer erreichte und zugleich im voll besetzten Goldenen Saal begeisterte Zustimmung fand. Es handelte sich also um einen glanzvollen Abend, an dem es die Stadt Augsburg versäumte mitzuglänzen – wie so oft, wenn es um kulturelle Belange geht.
Wer in der Lage ist, sich auf das vermutlich aufregendste zeitgenössische Buch in deutscher Sprache einzulassen, gehört zu einem kleinen Kreis der Menschheit, nämlich zu Lesern, die wissen, was Literatur kann: alles.
Nino Haratischwili ist mit “Das achte Leben (Für Brilka)” ein großer Roman gelungen
In der 1.275 Seiten starken Familiensaga entfaltet sich ein Kosmos menschlicher Verstrickungen, Abhängigkeiten, Abgründe des Verrats und die tiefe Sehnsucht (um es mit Ernst Bloch zu sagen) nach einem Ort des Friedens, wonach sich alle sehnen und wohin noch niemand kam. Die Frauen in diesem von Tolstois Atem geschaffenen Figuren sind oft Opfer, sie werden früh alt, müssen ins Exil, werden von Stalins Schergen verfolgt und getötet, während ihre Männer ihre Liebe, ihr Leben und ihre Herkunft verraten, weil sie zur sowjetischen Nomenklatura gehören wollen.
Nino Haratischwilis Saga “Das achte Leben (Für Brilka)”, für die sie in der Hauptsache den Brecht-Preis erhielt, entfaltet die Familiengeschichte der Jaschis, den Aufstieg und Fall des Sowjet-Terrors. Stalin, der in diesem vielstimmigen Roman nie namentlich erwähnt wird, ist der böse Geist des Buches.
Haratischwilis Schreibkunst erzählt von einem Krieg, der 1900 anfing und nie aufhörte und bis heute jede Stunde der europäischen Zivilisationsgeschichte prägt. “Das achte Leben (für Brilka)” ist über fünf Generationen ein in alle Verästelungen der menschlichen Seele verzweigtes Epos, in dem Figuren agieren, die das unmenschlichste Jahrhundert der Menschheitsgeschichte widerspiegeln und dramatisieren, indem sie menschlich sind. Andreas Platthaus schuf dafür den Begriff “dramatische Epik”. Es ist leicht zu verstehen, was er damit meint.
Nino Haratischwili wurde 1983 in Tiflis geboren und lebt seit 2003 in Hamburg. Trotz ihrer jungen Jahre muss man von einer “Weltliteratin” sprechen, die am Anfang ihres Schaffens steht. Vom russischen Zarenreich bis ins Berlin nach dem Mauerfall entfaltet sie mit den Mitteln des magischen Realismus auf den Spuren von Gabriel Garcia Marquez eine ungeheuerliche Welt. Mit Bertolt Brecht verbindet Haratischwili nicht nur die gleiche Entschlossenheit, Krieg als Schicksal und Schreibantrieb zu verwenden, sondern auch die Kunst, physische Lebenswirklichkeit als Schöpfungs- und Gestaltungsmoment psychischer Biografien zu beschreiben. Einen Autor, eine Autorin wie Nino Haratischwili hat der Brecht-Preis noch nicht gesehen.
Dankesrede von Nino Haratischwili für den Bertholt-Brecht-Preis 2018