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Samstag, 23.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Das Gerüst der Macht

Bernarda Albas Haus: ein atemberaubendes Bühnenbild interpretiert García Lorca tiefgründig

Von Frank Heindl

„Ruhe!“ – das ist das erste Wort, das die Titelfigur in Federico García Lorcas Drama „Bernarda Albas Haus“ ausspricht. Ihr letzter Befehl lautet: „Schweigen!“ Wie das angepasste Schweigen in Lorcas spätfeudaler, präfaschistischer Welt zum Grundpfeiler des Despotismus wird, wie Triebunterdrückung und bedingungslose Traditionshörigkeit ihre Opfer gleichfalls zu Tyrannen machen, das demonstriert Regisseurin Anne Lenk für das Augsburger Theater in einer bemerkenswerten Inszenierung – Premiere war am vergangenen Samstag.

Bernarda Alba verwandelt sich in Halina Kratochwils Bühnenbild von der behütenden, weiß gewandeten Mutter …

Bernarda Alba verwandelt sich in Halina Kratochwils Bühnenbild von der behütenden, weiß gewandeten Mutter …


Um Politik geht es in „Bernarda Albas Haus“ mit keinem Wort – die gesellschaftliche Situation Spaniens vor dem Bürgerkrieg der 30er-Jahre mag den historischen Subtext des Werks bilden – erwähnt wird sie nicht. Auch Anne Lenks Inszenierung greift diese Möglichkeit nicht auf – und tut gut daran. Stattdessen arbeitet sie in kongenialer Zusammenarbeit mit Bühnenbildnerin Halina Kratochwil heraus, wie gesellschaftliche Gewalt sich im Familiären widerspiegelt und umgekehrt.

Sechs Töchter hat Bernarda, alle im heiratsfähigen Alter – doch nun ist ihr Mann gestorben und sie verordnet dem Haus eine achtjährige Trauerzeit. Vom Zwist, der daraus entsteht, soll nichts nach außen dringen, die Nachbarn sollen nicht ahnen, was hinter den Mauern des verriegelten Hauses vor sich geht, das Tor soll sich für keinen Mann öffnen, und vor allem nicht für einen „nicht standesgemäßen“ Mann. Die Töchter murren gegen diese Gefangenschaft zunächst verhalten, später in offener Rebellion. Doch weil im Dorf sowieso nur wenige Männer für Bernardas Töchter in Frage kommen, weil diese zudem als hässlich gelten und weil außerdem nur eine von ihnen über eine Mitgift verfügt, empfinden die Frauen bald weniger Wut gegen die Mutter als vielmehr brennenden Neid aufeinander, eine Konkurrenz jeder gegen jede entbrennt.

Machtgier und unterdrückte Sexualität unter Krinoline und Engelsgewändern

Halina Kratochwil hat zur Illustration dieser Verhältnisse ein gewagtes Bild auf die Bühne gestellt: Bernarda Alba tritt nicht als Person in Erscheinung, sondern als riesige, bewegliche Gliederpuppe. Diese steht zu Anfang weiß und bewegungslos auf der Bühne, während Bernardas Mägde (Eva-Maria Keller und Elna Lindgens) erste Einblicke in die verkorksten Familienverhältnisse und Bernardas Regiment geben. Erst allmählich schälen sich die Töchter aus dem Innern der Puppe heraus – auch sie nicht im schwarzen Trauerflor, sondern allesamt weiß wie Engel und damit ganz der Mutterpuppe ähnlich. Das aber wird sich im Lauf der Inszenierung ändern: Zu Beginn der weiteren Akte werden sich die Figuren häuten – während die Töchter nach und nach nur noch in (wenn auch züchtiger) Unterwäsche herumspazieren, enthüllt die Mutter unter ihrem Kleid eine metallene Krinoline. Auf diese Weise outen sich die Töchter als sexuelle Wesen, deren verdrängte Triebe sich mehr und mehr nach außen kehren, während die Mutter sich als Monument der Härte, der Gewalt, der Grausamkeit „entpuppt“. Die Beweglichkeit der Puppe tut das Ihrige zu dieser Entpuppung: Martha Rudolf führt die Figur, die mal ihre Kinder fast erdrückt zwischen den riesigen Gliedmaßen, die mal rüde zuschlägt, die auch mal in geheuchelter Fürsorge die Hände schützend über der Familie ausbreitet.

… zu nackten Gewalt – am Ende ist ihr Rock nicht mehr Heim für Töchter und Mägde, sondern deren Gefängnis (Fotos: Nik Schölzel).

… zu nackten Gewalt – am Ende ist ihr Rock nicht mehr Heim für Töchter und Mägde, sondern deren Gefängnis (Fotos: Nik Schölzel).


Neben diesem Bühnenbild ist ein weiterer Glücksgriff der Inszenierung die Übersetzung des Textes durch Franz Xaver Kroetz. Das, was einem in den bisher verwendeten Übersetzungen manchmal fast wie Sarkasmus vorkommt, die maßlose Heuchelei der Mägde, das übertriebene Moralisieren der Bernarda, die neurotische Angst vor den Nachbarn – all dies war für García Lorca nicht Satire, sondern hart erlittene, gegenwärtige Realität. Kroetz holt diese Elemente weiter in den Vordergrund, lässt Lorcas Personal in dem aus seinen eigenen Stücken bekannten „Kunst-Bayerisch“ fluchen, zetern, geifern. Lenk/Kratochwil haben im Gegenzug die Töchter karikiert: Angustias (Ute Fiedler) ist mit einem schrecklichen Näseln ausgestattet, das nahezu als runnig gag zum Lachen reizt. Judith Bohle spielt die Magdalena lange Zeit als heulsusigen Jammerlappen, bis sie sich als intrigant und zu allem fähig zu erkennen gibt, und Martirio (Olga Nasfeter) haben sie einen fürchterlichen Buckel auf die Schulter gesetzt – zusammen wird aus den anfänglichen Engeln nach und nach ein teuflischer Hexensabbat, zu dem auch noch die ebenfalls in Gefangenschaft gehaltene Großmutter (Christel Peschke) gehört – 80jährig hat auch sie beschlossen, endlich entfliehen und heiraten zu wollen. Ein Solitär in dieser Runde ist Adela (Helene Blechinger): Sie, im grasgrünen Kleid, ist die offen Aufbegehrende, die Punkerin unter den unterwürfigen Töchtern. Sie spannt der älteren Schwester den Liebhaber aus, wendet sich gegen die Mutter, will sich das nehmen, was ihr im Leben zustehen sollte – und wenn es der Tod ist.

Die blanke Herrschaft der Mutter, die nackte Gewalt des Faschismus

Bernarda wird dies schließlich zu verhindern wissen, und wenn das Stück zu Ende ist, wird sie als die nackte Gewalt dastehen: Mal war ihre Krinoline ein stählernes Gerüst, mal ein Spinnennetz, in dem die Töchter zappelten – nun, da sich alle Töchter gegen Adela verbinden, da sie aus purer Eifersucht auf die moralische Linie der Mutter umschwenken, wird der Reifrock zur Todeszelle. Jetzt braucht auch die Macht keine katholisch-folkloristische Tarnung mehr, jetzt ist Bernarda blanke Herrschaft, nackte Gewalt, jetzt herrscht wieder die fromme „Ruhe“, die sie sich wünscht. Auch die, die Lorcas faschistische Gegner sich wünschten – denn natürlich sind Inszenierung und Bühnenbild doppelbödig-tiefgründig, lassen sie sich ebenso wie das Stück selbst auch als Gleichnis auf das Spanien Francos lesen, das der Dichter noch gar nicht kannte, weil ihn die Faschisten schon vor ihrem Sieg über die Republik ermordeten. Ihre Herrschaft konnten sie auf jenem stählernen Gerüst aufbauen, das zu Anfang der Inszenierung noch von Bernardas weißer Unschuldstracht verdeckt war. Bravos für ein in Hochform agierendes Ensemble sowie für Regie und Ausstattung.