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Samstag, 23.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Die Kraft der ungeschriebenen Bücher: Helmut Meyers “Bademeister”

Bücher, die nicht geschrieben werden, sind dennoch irgendwie existent und entwickeln nicht selten eine wundersame Wirkung. Gäbe es eine ewige Bestsellerliste der ungeschriebenen Bücher, hätte Helmut Meyers nicht zu Ende gebrachtes Lebenswerk “Die Bademeister” einen Spitzenplatz inne.

Von Siegfried Zagler

Helmut Mayer

Helmut Meyer im "Cafe 18" - Foto: S.Zagler


In den achtziger Jahren hat sich Martin Walser, als Siegfried Unseld noch Chef bei Suhrkamp war, dafür eingesetzt, dass die Gedichte des Augsburger Autors Helmut Meyer ins Verlagsprogramm aufgenommen werden. Walser konnte Unseld nicht gänzlich davon überzeugen, dass Meyers Lyrik das ganz große Format habe, das Walser darin entdeckt haben wollte. – Diese Anekdote aus vergangener Zeit wäre nicht bemerkenswert, wenn eben jener wilde ungezügelte Lyriker Helmut Meyer nicht seit mehr als 25 Jahren von einem Roman mit dem Titel „Die Bademeister“ träumen würde. „Bademeister“, so Meyers kategorische Allegorie in Sachen Provinzialität, sind dort von gesellschaftlicher Bedeutung, wo man innerhalb eines Ortes mit anachronistischer Dominanz agieren müsse, weil die vorhandenen Regeln nicht universal Sinn stiften, sondern von der aktuellen Situation abhängen. Die Welt als Schwimmbad: Nicht von der Seite springen, leuchtet als Regel nicht ein, wenn sich niemand außer dem Bademeister daran stört. Meyer, der mit einer spärlichen Rente auskommt, hat nie wirklich konzeptionell verfolgt, was er tatsächlich hervorragend kann, nämlich schreiben. Meyer ist ein Schriftsteller, der nicht schreibt, aber dennoch wirkt, nicht unbedingt mit der Nachhaltigkeit eines Max Brod, aber eben auch mit Format. Unerwartet tauchte Meyer vor einigen Jahren beim Neujahrsempfang von Pro Augsburg auf, hörte Jan Knopfs Ausführungen zu Brecht zu und erzählte anschließend dem Verfasser dieser Zeilen, worin sich Knopf bei Brecht fundamental täusche. Am gestrigen Freitag erzählte Meyer den entzückten Gästen des Cafe 18 in der Ludwigstraße 18, was Tucholsky wenige Tage vor seinem Selbstmord in sein Tagebuch schrieb: “Ich werde mich sehr vermissen”. Diese Anekdote sollte dazu beitragen, die Frage zu klären, ob es denn für unabhängige Geister und Autoren möglich sei, intensive Freundschaften zu pflegen. Freundschaft sei auf der Suche nach der Wirklichkeit nicht von Relevanz, so Meyer.

Meyers Romanfragment „Die Bademeister“ wird ein ungeschriebenes Buch bleiben. Ehemalige „Provinzfürsten“ und Szenegänger, die darin persifliert werden sollten, dürfen sorglos davon ausgehen, dass Meyer seine Fragmente nie in Buchdeckel bringen wird. Hinter jedem geschriebenen Buch steht eine Bibliothek geschriebener Bücher, hinter ungeschriebenen Büchern steht womöglich ein gelebtes Leben. Meyer ist ein ungezügelter Autor, dessen Texte mitreißen. Impulsiv unkontrolliert und widersprüchlich treibt er seine Figuren in Balanceakte zwischen inszenierter Selbstdarstellung und Wirklichkeit. Die Handelnden in seinen Textminiaturen entwickeln keine stillen Pläne und Lebensziele, alles geschieht durch Begegnung und unmittelbare Wandlung. Einsicht entsteht bei Meyer nur dort, wo gedankenloses Dahintreiben auf unüberwindbare Grenzen stößt. In den wenig erhältlichen Textfragmenten des Gersthofener Literaturpreisträgers Helmut Meyer weht ein Wind, der zu einem Orkan hätte werden können. Meyers großartiges Lyrikbändchen „Lichtflossen“ ist übers Internet bestellbar.

Meyer, Helmut

Lichtflossen

Gedichte

Verlag: Rauner, Erwin

ISBN: 978-3-9804409-6-7