Friedenspreis: Inhaltsleere Allgemeinplätze statt nachvollziehbare Begründungen
Vermutlich sind der Welt die Hoffnungsträger ausgegangen. Wie sonst ist es zu verstehen, dass mit dem Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes (LWB), Martin Junge, ein Kirchenfunktionär mit dem Augsburger Friedenspreis geehrt wird?
Kommentar von Bernhard Schiller
Beinahe wäre es dem Bayerischen Landtag im Jahr 1949 gelungen, sämtliche örtliche Feiertage im Freistaat abzuschaffen. Doch vom Lech kam starker Protest, so dass die Münchener Abgeordneten Gnade gewährten und Augsburg seither als einzige Stadt namentlich im bayerischen Feiertagsgesetz erwähnt wird und als weltweit einzige Kommune einen eigenen, staatlich geschützten Feiertag besitzt. Auf Anregung der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern beschloss der Augsburger Stadtrat dann im Jahr 1980, den „Preis Augsburger Friedensfest“ zu etablieren. Anlässlich des 2000-jährigen Stadtjubiläums im Jahr 1985 wurde er erstmals verliehen. Seit 1984 beteiligt sich die katholische Kirche an der ursprünglich rein protestantischen Feier, wodurch deren besondere historische Geltung obsolet geworden ist. Die Augsburger Protestanten zelebrierten mit dem Friedensfest bis dahin das Ende ihrer Unterdrückung durch die katholische Konfession während des 30-jährigen Krieges.
Die Jury des Friedenspreises besteht aus Mitgliedern von Laieninstitutionen und Funktionären beider Kirchen unter Leitung des jeweils amtierenden lutherischen Regionalbischofs sowie dem Augsburger Oberbürgermeister als Vertreter der Stadt. Andere christliche Konfessionen, andere Religionsgemeinschaften oder auch Säkulare sind nicht vertreten. Die Internetseiten der Stadt Augsburg und der evangelischen Kirche verschweigen die personelle Zusammensetzung der Jury.
Martin Junge erhält den diesjährigen Friedenspreis, weil er laut Jury als „geduldiger Brückenbauer“ zwischen Konfessionen, Religionen und Weltregionen dafür eintrete, Verantwortung in einer komplexen Welt zu tragen. Seine Themen seien der Klimawandel, Flüchtlinge, Armut und Gendergerechtigkeit. Ein ziemlich umfangreiches Programm. In dieser Form aber inhaltsleere Allgemeinplätze, die als Argument für einen Friedenspreis weder notwendig noch hinreichend sind. Eine charakteristische, persönliche und lebensnahe Leistung – wie etwa bei der vorherigen Preisträgerin – ist nicht zu erkennen. Regionalbischof Michael Grabow gestand diesen höchst zweifelhaften Umstand während der Jury-Begründung rhetorisch ein. Um dann aber rechtfertigend darauf hinzuweisen, Junge würde aus „tiefster Überzeugung und Engagement“ handeln und verdiene den Preis deshalb. Wem Junge bisher nicht erschienen ist, dem dürfte auch dessen – wie auch immer geartetes – Engagement nicht aufgefallen sein. Welche Aufgabe hat der Lutherische Weltbund? Und wer kann wissen, was in einer Person Überzeugung ist? Es spricht nichts gegen die Mühen eines Menschen, wenn er diese nicht im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit unternimmt. Im Gegenteil! Gleichwohl dürfen die Augsburger Bürgerinnen und Bürger, in deren Namen der mit 12.500 Euro dotierte Preis verliehen wird, eine intersubjektiv nachvollziehbare Begründung der Jury erwarten.
Eine Preisverleihung gehorcht der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Wesentliches Merkmal eines Preises ist die Herstellung von Bedeutung. Hier dürfte auch das zentrale Motiv für die Entscheidung zu finden sein. Schließlich läuft gerade das staatlich verordnete Lutherjahr! Die genannten „Argumente“ für die Wahl des LWB-Generalsekretärs treffen auf zahlreiche andere Funktionäre und sogar gewöhnliche Menschen zu. Der Preisträger wäre also beliebig austauschbar, wäre er nicht genau dieses eine: Oberhäuptling der Lutheraner. Die Verleihung des diesjährigen Friedenspreises zielt nicht auf die Einzelperson Junge, der in einer Videobotschaft die Auszeichnung leidenschaftslos als „Ermutigung“ bezeichnete, sondern auf die gesamte Lutherei und den von beiden Kirchen samt Staat veranstalteten Reformationszinnober.
Augsburgs Oberbürgermeister Kurt Gribl erzählte in seiner Ansprache von „großen Veränderungen, die irgendwo da draußen in der Welt passieren“ und „direkte Auswirkungen auf den Frieden in unserer Gesellschaft“ hätten. Gribl zitierte einen Satz aus dem neutestamentlichen Brief an die Hebräer, den er aus seinem theologischen Kontext herausgelöst auf gegenwärtige Stadtpolitik anwendet: „Und lasst uns … nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen…“ Eine Aussage, die exklusiv auf die Mitglieder der christlichen Gemeinde bezogen ist, wird durch die Exegese des CSU-Politikers zu einem moralischen Postulat, das alle Mitglieder der Stadtgesellschaft zur Beteiligung am Friedenswerk ermahnt. Das sei „unverbrüchlicher Bestandteil unserer Demokratie“, ebenso wie die „Verantwortung eines jeden Bürgers, sich über die großen Themen unserer Gesellschaft Gedanken zu machen“. Davon abgesehen, dass in einer liberalen Demokratie die individuelle Freiheit Vorrang genießt vor der Unterordnung unter irgendwelche großen Erzählungen – und sei es die vom Frieden, gilt Folgendes: Die Stadtgesellschaft, welche der Oberbürgermeister adressiert, ist keine homogene Ekklesia Christi und auch kein Friedensbier trinkender Traditionsverein, der von den sogenannten Megatrends überrumpelt wird wie von einem Dieb in der Nacht. Sondern ein hochdynamisches Gefüge aus mal mehr, mal weniger weltoffenen Einzelpersonen, die (rechtlich geschützte) Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit besitzen. Und zwar vollkommen unabhängig davon, wie viele und welche kulturellen oder religiösen Systeme im Stadtgebiet verortet werden können und wie diese ihre eigene Bedeutung einschätzen.
In der Friedenspreisrede behauptet Gribl weiter, es sei „dem Mut der protestantischen Fürsten im 16. Jahrhundert zu verdanken“, „dass wir heute in der westlichen Welt und vielen Ländern dieser Erde im toleranten Miteinander der Weltanschauungen und Religionen leben dürfen“. Deshalb erneuere die Stadt Augsburg gemeinsam mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern „in einem symbolischen Akt das Augsburger Bekenntnis von 1530“. An dieser Stelle gilt es zu erinnern, dass die sogenannte Konfessionalisierung eine der wesentlichen Ursachen für die europäische Kriegsfreudigkeit in der frühen Neuzeit und darüber hinaus war. Der von Gribl zitierte Mut der protestantischen Fürsten konnte sich der konfessionellen Konfliktlogik ebenso wenig entziehen wie die Staatsraison katholischer Länder.
Das Augsburger Bekenntnis schließt alle anderen Glaubensgemeinschaften außer der lutherischen und der katholischen vom Heil aus, sie werden wörtlich „verdammt“. Ausdrücklich Wiedertäufer und Juden. Die explizite Bezugnahme der Preisverleiher auf die Confessio Augustana verankert diese bereits von Martin Luther in seiner programmatischen Hauptschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ausgesprochene Herabwürdigung rituell im kulturellen und institutionellen Gedächtnis der Stadt. Der Friedenspreis ist in seiner derzeitigen Form performativer Ausdruck der hegemonialen Strukturen des 16. Jahrhunderts, die dergestalt noch immer Platz in Augsburger Diskursen beanspruchen. In diesem Sinne kann auch die diesjährige Entscheidung zur Preisvergabe interpretiert werden: Als ein selbstreferentielles Bekenntnis der Jury, zum Staatschristentum als solchem und zu seiner ökumenisch-ideologischen Einheit, die offenbar weltanschauliche Reaktion sein soll auf oben genannte Stressoren (Klimawandel, Migration etc.).
Der Namensgeber der Lutheraner jedenfalls – ohne den es die protestantischen Fürsten niemals gegeben hätte – war ein gnadenloser Ausbund an Intoleranz und Respektlosigkeit. Martin Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahr 1543 war an die protestantischen Fürsten gerichtet. Darin entmenschlicht Luther die Juden durch Bezeichnungen wie „durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding“ oder „Pestilenz“ und ruft zu ihrer völligen Entrechtung, Enteignung, Vertreibung und Versklavung auf. Er fordert, ihre Häuser, Synagogen und Gebetsbücher zu zerstören. Luthers Hass gegen die Juden blieb stets in den Adern des Luthertums erhalten, von wo aus er im kulturprotestantischen 19. Jahrhundert völkische Weihen empfing und sich letztlich in der Nacht vom 09. auf den 10. November 1938 rasend Bahn brach. Die Täter der Reichspogromnacht beriefen sich ausdrücklich auf Luther. Ebenso der protestantische Fürst Graf Albrecht der VII. von Mansfeld – beispielsweise -, der im Jahr 1547 die Eislebener Juden vertreiben ließ.
Es ist also festzuhalten, dass die Verleihung des Augsburger Friedenspreises 2017 nur dann mit Wohlwollen zu kommentieren ist, wenn die Mühen der Verdrängungsarbeit keine Schmerzen bereiten.