DAZ - Unabhängige Internetzeitung für Politik und Kultur
Dienstag, 26.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Geschenkte Perlen

Eine neue Reihe der DAZ

Von Siegfried Zagler



„Jede Revolution beginnt auf der Straße.“ So lautete ein Werbeslogan von Mercedes Benz in den Neunzigern, als plötzlich Che Guevara wieder durch die Modewelt geisterte. Heute beginnt jede Revolution im Netz, auch die blutigen. Die arabischen Revolutionen wären ohne Facebook kaum möglich gewesen. Die Welt befindet sich mitten in einem politischen Umbruch, mitten in einer progressiven Entwicklung, die auch vor den Toren Augsburgs nicht Halt machen wird. Noch ist alles in Butter, die Dinge werden von der Schwerkraft angezogen und der Plärrer verlängert, wenn das Wetter die Umsätze verhagelt. Welt wie sie immer war. Oder nicht? Eher nicht!

Internet-Foren haben erfolgreich Politik gemacht

Augsburgs Oberbürgermeister Kurt Gribl („KurtsNachrichten“) und Kulturbürgermeister Peter Grab informieren mittels Facebook über ihre politische Arbeit eine ständig wachsende politische Augsburger Facebook-Community. Ordnungsreferent Volker Ullrich erlaubte sich den Spaß, übers Internet darauf hinzuweisen, dass die städtischen Knöllchenverteiler geschlossen auf einer Veranstaltung sind und rief somit nach der kleinkarierten Rechtsauffassung des politischen Gegners zu einem Ordnungsverstoß auf. Über 100 Menschen setzten aufgrund einer Facebook-Aktion im Kulturausschuss die Stadträte dergestalt unter Druck, dass Kulturreferent Peter Grab eine Reihe seiner geplanten Kürzungen zurückzog. In Sachen CFS-Debakel haben sich die Panther-Fans über ihre Internet-Foren organisiert und zum Besuch von Stadtratssitzungen aufgerufen und erfolgreich Politik gemacht. Ihre „Super-User“ sind unter ihren Forennamen zu städtischen Runden Tischen eingeladen worden und haben eigene Pläne für den CFS-Umbau vorgelegt.

Was geschieht, wenn Web-Communities in die Wirklichkeit hineinwirken?

Vorgänge, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären und dennoch befinden wir uns erst am Beginn einer gesellschaftlichen Umwälzung, die so schnell voranschreitet, dass kaum der Atem bleibt, sie in allen Verästelungen zu beschreiben. Noch verändert sich alles rasend, so dass es albern wäre, eine Prognose abzugeben, wo wir in fünf Jahren stehen. – Noch sind Facebook und Twitter Plattformen für Gesinnungs- und Zeitgeist-Attitüden. Die meisten User dieser „Gemeinschaftsportale“ sind in Deutschland noch meilenweit davon entfernt, sich politisch zu formieren oder zumindest etwas mehr zu tun, als einen „Gefällt mir-Button“ anzuklicken. Dass Prostitution, Sucht, Weltverlust und Vereinzelung derzeit vom Netz stärker bedient und befördert werden als gesellschaftlicher Aufbruch, ist ein vielzitiertes Phänomen, das die Moralität und die soziale Situation einer Gesellschaft widerspiegelt. Weshalb mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen werden muss, was geschieht, wenn Web-Communities ernsthaft in die Wirklichkeit hineinwirken.

Facebook vom Gesicht auf die Füße stellen

Dass man Facebook vom „Gesicht auf die Füße stellen“ könnte, um es ein wenig abgewandelt mit Karl Marx zu sagen, zeigt Samuel Ruschs Text. Rusch (32), in Starnberg geboren, hat die meiste Zeit seines Lebens in Augsburg verbracht. Seit einigen Jahren lebt er als Geigenbauer in Berlin. Mit der „alten Heimat“ hält er über Facebook Kontakt – und über die DAZ, der er sein Manuskript unverlangt zukommen ließ. Innerhalb kurzer Zeit die zweite Perle, die ihren Weg in die DAZ-Redaktion fand, ohne dass ein Taucher losgeschickt wurde. „Geschenkte Perlen“ soll nun ein neues DAZ-Format heißen, in dem DAZ-Leser zu Wort kommen sollen. Leser, die es verstehen, eine Sache oder ein Anliegen differenziert darzustellen, ohne parteipolitische Präferenz und ohne Dünkel, versteht sich. Roozbeh Karimi hat sich der Debatte um das Grass-Gedicht angenommen. Samuel Rusch beschreibt heute die Idee eines organisierten Regelverstoßes via Facebook.

Vom Zeigen des Gesichts in der wahren Welt

Von Samuel Rusch

Nutzer des Gemeinschaftsportals „Facebook“ werden seit einiger Zeit Zeugen einer interessanten Entwicklung. Immer mehr Privatpersonen stellen politische Videos populärer Themen auf ihrem eigenen Profil oder innerhalb von Gruppierungen zur Schau. Als ein guter Freund von mir vor kurzem eine (zugegeben gelungene) Dokumentation zum steigenden Fleischverbrauch verlinkt hatte, musste ich doch schlucken. War nicht er es, der während meiner langjährigen Zeit absoluten Fleischverzichts sich nach der Disco noch Buletten aus dem Tiefkühlregal aufwärmte?

„Zum Nachdenken anregend“ und „schockierend“ hatte er über den Link geschrieben und vielleicht stimmt das ja auch. Es handelt sich wohl nur um ein „Drive-in-Commitment“. Einfach an der Einfahrt eine Portion politische Überzeugung oder den Nimbus eines Weltverbesserers bestellt – und schon kann man guten Gewissens wieder durch das Web surfen. Das zumindest ist ja weitgehend vegetarisch – wenn auch nicht ganz bio.

Soziale Netzwerke dienen der Selbstdarstellung

Fraglich, aus welchem Grund diese viral verbreitete „Politisierung“ zustande kommt. In erster Linie dient das größte soziale Netzwerk der Welt, wie man aus eigener Erfahrung weiß, hauptsächlich zur Selbstdarstellung. Es ist schön und wichtig, dass sich zunehmend Gruppen bilden und globale wie regionale Missstände anprangern. Zur Verbreitung von Missständen und Meinungen dazu ist das Internet ohne Frage das Medium unserer Zeit. Widerstand und Fortschritt aber lässt sich allein vom Schreibtisch aus nicht organisieren. Die wenigsten der User, die bei einer geplanten Demonstration auf „ich bin dabei“ geklickt haben, kommen wirklich. Hier trennt sich wie die Spreu vom Weizen der Mitposter vom Aktivisten: Denn wer den Burger mitnimmt, ohne wirklich auszusteigen, sitzt auch zum Zeitpunkt der Demo noch mit langer Unterhose vorm Computer. Und teilt ein Video über veganes Essen, während er mit Genuss seine Müllermilch schlürft.

Nur praktizierter Protest bringt Aussicht auf Erfolg

Wie wäre es stattdessen mit einer Form des Protests in der realen Öffentlichkeit? Einer bei der man gesehen, ja sogar angefasst werden kann? (Hat das nicht früher sogar noch viel Spaß gemacht?) So gut besucht wie einige Facebook-Gruppen sind, hätte ein vergleichbar zahlreicher, in der realen Welt praktizierter Protest vielleicht auch Aussicht auf realen Erfolg. Gemeint ist ein sicht- und spürbarer Erfolg zugunsten jener Welt, die man im Internet so lauthals als erstrebenswert proklamiert. “Öffentliche Verkehrsmittel umsonst!” tönt die Piratenpartei im Netz und erlebt einen unvergleichlichen Zuwachs an Mitgliedern, Fürsprechern und medialer Aufmerksamkeit. Wie wäre es statt all dieser – mit einem kurzen Mausklick vollzogener – Drive-in-Commitments mit einem Drive-by-Commitment – mit den öffentlichen Verkehrsmitteln eben?

Welche Folgen hätte eine kollektive Verweigerung eines Ticketkaufs beim öffentlichen Nahverkehr?

Was hätte es zur Folge, wenn alle Unterstützer der Idee des kostenfreien Nahverkehrs kollektiv den Kauf von Tickets verweigerten? Wie lange würden die Betreiber versuchen, die finanziellen Ausfälle mit dem Sanktionieren von Schwarzfahrern zu kompensieren? Hätten sie vielleicht schon damit aufgegeben, noch bevor selbst die tüchtigsten Kontrolleure an der Sinnlosigkeit ihrer – dann zugegebenermaßen relativ einfach gewordenen – Tätigkeit zerbrechen? Öffentliche Verkehrsmittel sind keine Dienstleistung, für deren Inanspruchnahme man sich entscheidet, kein Luxusgut, das man sich gönnt. Sie sind seit langer Zeit eine Grundvoraussetzung für das Aufrechterhalten des gesellschaftlichen Normalbetriebs. Der entstehende wirtschaftliche Kollaps würde in Windeseile eine alternative Finanzierung für den regulären Betriebsablauf finden lassen, angesichts der Kosten-Nutzen-Erwägungen diverser Rettungspakete geradezu ein Schnäppchen.

Der gelebte Verstoß gegen eine Konvention hat Bedeutsamkeit

Ein zugesichertes Mindestmaß an Mobilität innerhalb der Stadt, unabhängig vom Einkommen, ist somit im Prinzip genauso nah wie erstrebenswert – in der Praxis aber eben wieder doch sehr fern. Denn abgesehen von Knöllchen und unangenehmen Gesprächen für einige, wäre der allen Kombattanten abverlangte Beitrag ihre leibhaftige Präsenz. Das Zeigen ihres Gesichtes in der wahren Welt sowie der gelebte Verstoß gegen eine Konvention hat demokratische Bedeutsamkeit, birgt also die Chance auf Veränderung hin zum Besseren. Nicht das Zeigen eines mit Bedacht ausgewählten epischen Profilbildes neben der vom Schreibtischstuhl aus verkündeten Information, dass man dagegen ist.