Leichtfüßig, leicht fallend und erfolgreich
Siegfried Zagler über Michael Thurk
Als Michael Thurk kurz nach der Halbzeit fünf Meter vor dem Tor freistehend den Ball in den Bremer Nachthimmel drosch und ihm wenige Sekundenbruchteile später die Erkenntnis in die Glieder fuhr, dass er soeben eine so genannte „Einhundertprozentige“ versiebte, begann unmerklich etwas, das Chronisten gern als „Anfang vom Ende“ bezeichnen. Die Rede ist vom Pokalhalbfinale des FC Augsburg im März 2010 im Weserstadion, als der FCA mit phasenweise großartigem Fußball seine zahlreich mitgereiste Anhängerschar entzückte. Die DAZ attestierte damals dem FCA „Bundesligatauglichkeit mit Abstrichen“, wovon der FCA im August 2011 sehr weit entfernt ist.
Thurks Fall zum Mitläufer hat die Defensivausrichtung des FCA erst denkbar gemacht
Der FCA hat sich am Montag von Michael Thurk getrennt, also von jenem Spieler, dessen unerwartete wie späte fußballerische Selbstfindung den Höhenflug der Augsburger in den Jahren 2009 und 2010 vorantrieb. Thurk verwandelte die Augsburger von der Grauen Maus zum Starlight-Express der Zweiten Liga. Das Ende dieser seltsamen Geschichte begann in Bremen. Nach diesem Spiel sollte Michael Thurk nie wieder zu seiner überragenden Form zurückfinden. Eine Form, die ihn kurzfristig ins Gerede brachte, für die WM in Südafrika nominiert zu werden. Thurks sensationelle Spätentwicklung zum spielenden wie treffenden Mittelstürmer hat im Zusammenwirken mit Ibrahima Traore, Marcel Ndjeng und vielen anderen den FCA 2009/2010 in den kleinen Kreis der spielstarken Mannschaften der Zweiten Liga katapultiert. Ein Status, der 2011 erloschen ist, was unter anderen mit Jos Luhukays Auftrag zum Aufstieg zu tun hatte, aber eben auch mit Michael Thurk, dessen Fall vom herausragenden Spieler zum Mitläufer die neue Defensivausrichtung des FCA erst denkbar machte.
Bei den Fans hat Thurk nichts von seinem Kultstatus eingebüßt
Jos Luhukay hat lange an Thurk festgehalten, auch dann, als er nur noch sporadisch traf und seine Laufwege überschaubarer wurden. Thurk vor dem Bundesligastart keine gute sportliche Prognose auszustellen, mag nicht nur aus Trainersicht verständlich sein, ihn aber dergestalt kurz entschlossen vor die Tür zu setzen, ist nicht nachvollziehbar und nun möglicherweise der Beginn vom Ende des niederländischen Trainers mit dem angedeuteten Oberlippenbart. Jos Luhukay hat offensichtlich mit dieser Aktion auf einen Schlag sein hart erarbeitetes Standing bei den Fans des FCA verspielt. Thurk, der mit seinem Tor im letzten Saisonspiel nicht nur den Ausgleich gegen FSV Frankfurt, sondern auch die Wende zum Aufstieg im letzten Saisonspiel eingeleitet hatte, hat bei den Ultra-Gruppierungen des FCA noch nichts von seinem Kultstatus eingebüßt.
Michael Thurk gehörte während der Saison 2009/2010 zu den besten Spielern, die je für den FCA die Fußballschuhe schnürten. Schnell im Antritt und mit dem unwiderstehlichen Cruyff-Schlenker bei eins zu eins Situationen im Halbfeld. In der Tempoaufnahme aus der Tiefe kommend, ähnelte Thurk in der Tat nicht selten dem großen Johann Cruyff, während er im Dribbling in Strafraumnähe etwas von Filippo Inzaghi hatte (leichtfüßig, leicht fallend und erfolgreich), doch Thurk war mehr als nur ein verschwommenes Abbild größerer Kaliber.
Es schien, als hätte Thurk einen Deal mit allen Fußballgöttern geschlossen
Er war auch ein ergebnisorientierter Kämpfer, der sich mit geschmeidigem Herzblutfußball (samt der dazugehörigen Theatralik) in ein Match hineinarbeitete und den Dienst am Gesamterfolg höher stellte, als man das von Diven bisher so gewöhnt war. Thurk spielte in Augsburg den besten Fußball in seiner Karriere und generierte dabei mit seiner eleganten Abschlusssicherheit etwas, das es in dieser zerbrechlichen Form in der deutschen Fußballlandschaft seit Mario Basler nicht mehr gab: Genialität. Zu seiner besten Zeit bewegte sich Thurk im Dress des FCA wie von Geisterhand geleitet mit traumwandlerischer Ball- und Treffsicherheit über den Platz, als hätte er für bestimmte Zeit einen Deal mit allen Fußballgöttern geschlossen. Thurks Zeit als Profifußballer ist vorbei. Und wie bei allen Auserwählten, die die Götter zu einem Geschäft überreden konnten, endete seine Zeit am Montag mit einem großen Knall, ohne Blumen und das übliche Prozedere der Nettigkeiten. Michael Thurk hat in Augsburg Sportgeschichte geschrieben und wird nicht nur in der lokalen Hall of Fame, sondern auch im Gedächtnis der Augsburger Fußballversteher eine Sonderstellung einnehmen, wovon zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder Jos Luhukay noch Andreas Rettig ausgehen können. Möglicherweise – im Fußball ist auch in Augsburg nichts auszuschließen – entwickelt sich in dieser Angelegenheit für Manager wie Trainer ein schädlicher Dauerkonflikt: ein langsamer Abschied mit Rosenkriegszenarien. Michael Thurk würde das möglicherweise sogar genießen können.