„Mit Gottes Hilfe wird es wirklich so sein“
Erinnerungen eines achtjährigen Spitzbuben zur Reichspogromnacht
Von Rebecca Steinhart
In der Augsburger Synagoge wurde am Sonntag Abend der Opfer der Reichspogromnacht gedacht. Unter dem hohen Kuppeldach der Synagoge erinnerten die Redner – darunter der Zeitzeuge Rabbiner Prof. Dr. Walter Jacob – an die Ereignisse vor 75 Jahren. Die Erzählungen und Appelle, aber auch die atmosphärische musikalische Umrahmung, sorgte bei vielen Anwesenden für feuchte Augen.
Alexander Mazo, Präsident der IKG Schwaben, der die Anwesenden nach der Einstimmung durch das Orchester begrüßte, rief an der Gedenkfeier der Reichspogromnacht dazu auf, die Ereignisse vor 75 Jahren nicht zu vergessen. “Wir dürfen nicht zulassen, dass die Erinnerungen aus unserem Gedächtnis getilgt werden.” Oberbürgermeister Kurt Gribl erinnerte an den Verlust der Menschenwürde zahlreicher Mitbürger, der nicht erst mit der Pogromnacht, sondern bereits sehr viel früher begonnen habe. Er wolle sich nicht die Frage nach Vergebung anmaßen, freue sich aber, dass eine Versöhnung und ein Aufeinanderzugehen möglich geworden sei. “Frieden gibt es nicht umsonst, am Frieden muss gearbeitet werden.”
Verbessern der Welt geschieht durch den Menschen selbst
Zwischen den Ansprachen und Gebeten sorgten das Orchester und der Chor des A.B. des Stettenschen Instituts und die Herren des Madrigalchors bei St. Anna und des Philharmonischen Chors Augsburg für eine festliche musikalische Umrahmung. Lange sei er gegen das gemeinsame Gedenkfeiern gewesen, erzählte der Gemeinderabbiner der IKG Schwaben-Augsburg Dr. h.c. Henry G. Brandt. Mittlerweile habe er dieses akzeptiert. Die Frage nach dem Weshalb müsse man gemeinsam stellen, doch je nach Herkunft fiele die Fragestellung anders aus:
Die Juden fragten: ‘Gott, warum hast du uns verlassen?’, während sich die Deutschen fragten, wie aus einer hochkultivierten Gesellschaft eine Mörderbande werden konnte.
“Die Erinnerung und die Frage nach den Gründen ist eine Notwendigkeit, um aus Gewesenem zu lernen. Um Fehler nicht wieder zu wiederholen.”
Er erinnerte daran, dass noch immer schreckliche Dinge auf der Welt geschehen, weil verschiedene Glaubensrichtungen sich nicht vertrügen. Das Verbessern der Welt geschehe durch die Menschen selbst. In diesem Zusammenhang appellierte er auch an die Sängerinnen des Chors und die Orchestermitglieder, welche ein Teil der Augsburger Zukunft seien. “Ungeachtet eurer Herkunft seid ihr die Zukunft dieser Stadt.”
Sechs Wochen im KZ
Der Zeitzeuge Rabbiner Prof. Dr. Walter Jacob war aus den Vereinigten Staaten angereist, um in der Augsburger Synagoge zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht zu gedenken und seine Erinnerungen daran mit den Anwesenden zu teilen. “Erinnerung von einem achtjährigen Spitzbuben”, wie er sie nannte. Als Kind sei ihm, als Sohn des damaligen Augsburger Rabbiners, die Synagoge ein vertrauter Ort gewesen. Am 9. November vor 75 Jahren habe es geregnet, als er und seine Freunde vor der Synagoge spielten. Bevor er nach Hause ging, warf er noch einen Blick in die Synagoge. Mitten in der Nacht, so erinnert sich Walter Jacob, seien sie durch die Feuerwehr geweckt worden, weil die Synagoge brannte. Bänke, Gebetbücher und die Thora brannten. Die Gestapo warf dem Vater des Jungen vor, für den Brand verantwortlich zu sein. Der Vater stritt dies ab und verschwand. “Die älteren Leute, die nicht nach Dachau kamen, mussten die Synagoge aufräumen”, erinnerte sich Walter Jacob. Sechs Wochen später kehrte sein Vater aus dem Konzentrationslager zurück. Dünner sei er gewesen, aber ansonsten okay.
Erinnerung an die Flucht aus Deutschland
Die Familie bereitete sich auf die Auswanderung vor. Habseligkeiten wurden in die Vereinigten Staaten geschickt, in der Hoffnung dass die Ausreise gelänge. In der Wohnung wurden immer wieder Juden aufgenommen, die nicht in ihren Städten oder Dörfern hatten bleiben können. “Immer neue Spielkameraden, so denkt man als Kind.” Die Flucht nach England gelang ihnen, und wenigen anderen, die Glück hatten. Für die meisten habe es keinen Ausweg gegeben. Auf der Weiterreise in die USA wäre das Schiff beinahe untergegangen, doch schließlich erreichte man das Land, in dem seine Familie einen Neuanfang machen konnte. Für die Familie und den Vater ging das Leben sehr schön weiter, erzählte Walter Jacob, “aber er hat immer an die Augsburger Gemeinde gedacht.” Daher begann der Vater früh, mit Rundschreiben die ehemaligen Gemeindemitglieder aus Augsburg aufzuspüren.
Deutschland hat sich geändert
Prof. Dr. Walter Jacob ist Rabbiner geworden, hat interreligiöse Gespräche geführt und mit anderen Zeitzeugen gesprochen. Er ist der Meinung, dass sich inzwischen etwas geändert habe: “Das ist ein ganz anderes Deutschland”. Es sei ein Deutschland, das sich nicht nur erinnere, sondern auch fragt, was man gemeinsam tun könne, damit sich so etwas Schreckliches nicht wiederholt. “Das ist eine neue Moral und das tat kein anderes Land in der Welt bisher.” Deutschland sei nicht mehr schrecklich, sondern “das Deutschland, das einen besseren Weg gefunden hat für sich und für andere – mit Gottes Hilfe wird es wirklich so sein.”