Werte statt Rechtsordnung: Weshalb die Stadt Augsburg mit dem “Selbstverständnis Friedensstadt” einen heiklen Pfad betritt
Am Samstag startete das Kulturprogramm zum Augsburger Hohen Friedensfest unter dem Motto “Demokratie”. Vorab wurde im Augsburger Stadtrat ein neuartiges “Selbstverständnis Friedensstadt” verabschiedet (die DAZ berichtete). Die vier Schwerpunkte des Selbstverständnisses lauten: „Bekenntnis zum friedlichen Miteinander, Bekenntnis zur gesellschaftlichen Vielfalt, Bekenntnis gegen Gewalt und Extremismus, Bekenntnis zu einer wertegeleiteten Sicherheitspolitik.“ Mit dieser vierfachen Confessio Augustana 2.0 will die “Friedensstadt Augsburg” Frieden definieren. Insbesondere das vierte Bekenntnis bietet Möglichkeit zum Streit.
Kommentar von Bernhard Schiller
Den Bemühungen um den Frieden in der Stadt gebührt Hochachtung
Das neue Selbstverständnis entstand nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den Ereignissen seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem Überfall der Hamas auf Israel. Ereignisse, deren Auswirkungen bis in die Augsburger Stadtgesellschaft hineinreichen und erhebliches Konfliktpotential haben. Diesen Herausforderungen angemessen zu begegnen, stellt für eine Verwaltung keine einfache Aufgabe dar, zumal sie zeitgleich auch noch eine Strategie gegen den politischen Extremismus von innen braucht. Den Bemühungen von Stadtspitze, Stadtrat und Verwaltung, in dieser Situation den Frieden in der Stadt zu erhalten, gebührt – ebenso wie den zahlreichen bürgerschaftlichen Initiativen, Religionsgemeinschaften, Vereinen und Personen, die sich tagtäglich für ein friedvolles Miteinander einsetzen – Hochachtung und Wertschätzung. Dazu zählt auch eine kritische Begleitung.
Eine Zumutung für die Bürgerschaft und die Friedensbewegung
Hervorzuheben ist, dass das Selbstverständnis als “nach innen gerichtet” verstanden werden soll. Der kommissarische Leiter des Friedensbüros der Stadt Augsburg, Thomas Weitzel, konkretisiert diese Formulierung gegenüber der DAZ: Im Mittelpunkt stehe das „Wirken in die Stadt und in die Stadtgesellschaft“. Es gehe um die „Gestaltung des friedvollen Miteinanders in Augsburg“. Das Selbstverständnis richte sich außerdem nach „innen“, weil eine Kommune „Regelungen nur im eigenen kommunalen Wirkungsbereich treffen“ könne. Wie es im Text des Selbstverständnisses heißt, habe die Stadt Augsburg nämlich keinen Einfluss „auf die auswärtige und militärgestützte Sicherheitspolitik des Nato-Partners Deutschland“. Das ist bemerkenswert paradox, weil das Selbstverständnis ein „Bekenntnis zu einer wertegeleiteten Sicherheitspolitik“ beinhaltet, womit die Autoren die notfalls militärische Verteidigung des „friedlichen Zusammenlebens in einer freiheitlichen Demokratie“ meinen und ein eindeutiges Bekenntnis zur Nato sowie zur ortsansässigen Rüstungsindustrie verbinden.
Der Widerspruch, „gegen Krieg zu sein, aber die demokratische Werteordnung im Zweifel militärisch verteidigen zu müssen“, könne „von dem nach innen gerichteten Verständnis der Friedensstadt Augsburg nicht aufgelöst werden.“, heißt es in dem Selbstverständnistext. Im Weltraum der Möglichkeiten und der Ausstrahlungswirkungen, die kommunale Friedensarbeit hat oder haben könnte, mutet die Stadt Augsburg ihren Bürgern einen selbstbezogenen Friedensbegriff zu, der an den Grenzen zu Gersthofen, Neusäß, Stadtbergen, Königsbrunn und Friedberg-West definitorisch endet. Weiter mutet die Stadt ihren Bürgern und insbesondere den hiesigen Friedensinitiativen zu, die Widersprüche auszuhalten, die damit unweigerlich einhergehen. Indirekt angesprochen wird mit dem Bekenntnis nicht zuletzt der Zusammenschluss “Augsburger Friedensinitiative” (AFI), der auf das westliche Militärbündnis Nato einseitig fixiert ist. Wie aber ist es um das eigene Verhältnis der Stadt zu inneren Widersprüchen bestellt?
Brennendes Sehnen nach Frieden
Als der Augsburger Stadtrat am 6. Juli des Jahres 1949 auf Anregung des Augsburger Landtagsabgeordneten Hans Kramer (SPD) und auf Antrag des Oberbürgermeisters Müller (CSU) einstimmig beschloss, bei der Bayerischen Staatsregierung zu beantragen, das Augsburger Friedensfest als Feiertag zu belassen, wurde das nicht mit dem „friedlichen Miteinander“ in der Stadt begründet, sondern mit der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs und des Westfälischen Friedens und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Schrecken des erst vier Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkriegs. Dem Augsburger Stadtrat stand der Sinn nach Frieden als dem Nichtsein von Krieg. Oberbürgermeister Müller zitierte zum Ende seiner Antragsbegründung den römischen Dichter Vergil mit folgenden Worten: „Wir wissen, dass im Kriege kein Heil liegt, deshalb verlangen wir Frieden.“ Diese Mahnung zum Frieden solle das Friedensfest in der Bürgerschaft hochhalten, so der Nachkriegs-OB. Mit Ach und Krach kann man daraus 75 Jahre später ein „Bekenntnis zu einer wertegeleiteten Sicherheitspolitik“ (sprich: zur Nato) ableiten. Offensichtlich aber nicht, ohne dabei semantisch den heiklen Pfad einer Werte- statt einer Rechtsordnung einzuschlagen.
Als Hans Kramer am 21. Juli 1949 vor dem Plenum des Bayerischen Landtags für das Anliegen warb, begründete er das mit der „Erinnerung an den Friedensschluss zu Münster und Osnabrück im Jahre 1648“ und den vorangegangenen Schrecken des Krieges. Kriegselend, Not und Pein hätten das „Sehnen nach Frieden“ in der Augsburger Bevölkerung „brennend“ werden lassen. Worte, die nicht nur im Nachkriegsdeutschland zeitgeschichtlichen Charakter hatten, sondern heute haben – angesichts der alltäglichen, durch Terror, Kriege und Hass verursachten Not und Pein. Augsburgerinnen und Augsburger jeglicher Herkunft sehnen sich nach Frieden – nicht nur für sich, sondern und besonders auch für die Anderen.
Widersprüchliche Botschaften und fragwürdige Begründungen
Anlässlich des Friedensfestes im Jahr 1968 erklärte der damalige Augsburger Dekan Dr. Helmut Lindenmeyer, das Friedensfest sei „nicht nur ein Anlass zur Erinnerung und Freude“, sondern vielmehr auch „eine Mahnung und eine Aufgabe“ an die Menschen von heute, sich „aktiv in den Dienst des Friedens“ zu stellen. Es genüge nicht, „sich in reichsstädtischer Tradition zu sonnen“. Der Dekan bezog seine Worte auf die „Spannungen zwischen den Machtblöcken“ und den Krieg in Biafra im heutigen Nigeria. Auf weltweite kriegerische Konflikte also. Fünf Jahre später widmete der Bayerische Rundfunk anlässlich des Augsburger Friedensfestes eine vierstündige Sondersendung dem Thema „Erziehung zum Frieden“. Ein Beispiel unter vielen, das für das steht, worum es beim Augsburger Friedensfest spätestens seit 1949 immer ging: um den ganzen Frieden.
Die Liste der Preisträger des Preises Augsburger Friedensfest seit 1985 ist nicht nur international – sie weist vor allem immer wieder klare Bezüge zum Thema Weltfrieden auf. Als im Jahr 2017 der Preis Augsburger Friedensfest an den Kirchenfunktionär Martin Junge verliehen wurde, erklärte der damalige Oberbürgermeister Kurt Gribl in seiner Rede, dass mit dem Preis Personen geehrt würden, die sich „um den Frieden in der Welt verdient gemacht“ haben und sich „für den Frieden … in besonderer Weise einsetzen“. Mit der Verleihung des Friedenspreises wolle die Stadt Augsburg „aktiv den Frieden anmahnen und einfordern“. Rhetorisch lag Gribl damit noch auf der Linie seines Amtsvorgängers aus den fünfziger Jahren.
Der Augsburger Friedenspreis besteht auch aus einer Skulptur, die eine von zwei Friedensengeln umspannte Weltkugel darstellt, die mit dem Wort Frieden in den verschiedensten Sprachen der Menschheit beschriftet ist und die „Hoffnung auf grenzenlosen Frieden“ ausdrücken soll. Als Eva Weber, Gribls Nachfolgerin im Amt des Oberbürgermeisters, die Preisträger des Jahres 2020 verkündete, sagte sie, die Preisträgerinnen und Preisträger trügen „die Augsburger Friedensbotschaft für uns alle in die Welt“. Wenn der Stadtrat jetzt ein neuartiges “Selbstverständnis Friedensstadt” in die Welt setzt, das ein nach “innen gerichtetes Verständnis sein soll”, dann kann die vielbeschworene Tradition des Feiertags und des Augsburger Hohen Friedensfestes dafür nicht mehr als Begründung herhalten.
Potential zu Ignoranz und Spaltung
Die gegenwärtigen globalen Konflikte fußen wesentlich auf dem Gegeneinander von universalistischen und partikularistischen Motiven. Wie im Text des Selbstverständnisses richtig festgestellt wird, haben “globale und geopolitische Konflikte auch Auswirkungen auf das Leben von Bürgerinnen und Bürgern in Augsburg”. Das Gezerre um eine auf dem Augsburger Rathausplatz aufgehängte, heruntergerissene, angezündete, wieder auf- und dann abgehängte Flagge des Staates Israel zeigte das in aller Deutlichkeit. Die weitere Schlussfolgerung der Selbstverständnis-Autoren, dass diese Konflikte “nicht in Augsburg gelöst werden” könnten, klingt angemessen bescheiden und zurückhaltend, läuft aber an der Realität vorbei und birgt in dieser Formulierungsweise ein Potential zu völliger Ignoranz wie auch zu neuer sozialer Spaltung.
Dieses Risiko wird bereits im Gebrauch des Wortes “Identifikation” erzeugt, das aus dem Stadtmarketing stammt, im Selbstverständnistext verwendet wird und eine Confessio Augustana 2.0 herbeimoralisiert. Allein die Tatsache, dass beispielsweise ein „Weltverband der Kommunen“ (UCLG) mit Sitz in Barcelona existiert, der sich „für demokratische Regierungsführung von der lokalen bis zur globalen Ebene“ einsetzt, konterkariert die Aussage, dass der Wirkungsbereich der Stadt Augsburg nur auf die Stadtgesellschaft beschränkt wäre. Ironischerweise sind politische Vertreter der Stadt Münster und des Landkreises Osnabrück im UCLG vertreten. Jener Regionen, in denen der Westfälische Frieden besiegelt wurde. Münster und Osnabrück bezeichnen sich ebenfalls als Friedensstädte.
Ein historisches und geographisches Netzwerk von Friedensfesten
Die Annahme, das Augsburger Friedensfest wäre ein unvergleichbares Alleinstellungsmerkmal der Stadt Augsburg, ist falsch. Friedensfeste in derselben oder in einer ähnlichen Art und Weise wurden auf lange Zeit beispielsweise in Lindau oder Regensburg gefeiert. Auch heute noch gibt es die Sennfelder und Gochsheimer Friedensfeste, die wie das Augsburger Hohe Friedensfest von der Unesco mit dem Titel „Immaterielles Kulturerbe“ ausgestattet wurden und auf den Westfälischen Frieden zurückgehen. In Meeder bei Coburg wird alle 10 Jahre im August das „Friedensdankfest“ gefeiert, um an das Ende des Dreißigjährigen Kriegs zu erinnern. Die “Friedensstadt Osnabrück” feiert jährlich rund um den 25. Oktober herum den Osnabrücker Friedenstag mit einem Kulturprogramm und der einzige strukturelle Unterschied zu Augsburg scheint das Fehlen eines gesetzlichen Feiertages zu sein.
Das Augsburger Friedensfest ist eines von vielen in einem historischen und geographischen Netzwerk aus Friedensfesten, aus Friedensritualen, Friedensverträgen und Friedensstädten. Es ist trotzdem freilich kein Fehler, aus der eigenen Friedensfestvariation einen Auftrag zur steten Erneuerung und zur Bewahrung des sozialen Friedens in der Augsburger Stadtgesellschaft abzuleiten.
“Selbstverständnis” könnte auch Selbstkritik bedeuten
Als der Preis Augsburger Friedensfest am 13. Oktober 1985 das erste Mal vergeben wurde, sprach der damalige Oberbürgermeister Hans Breuer (1930 – 2021) in der Laudatio auf den Preisträger folgende Worte: “Wie in keiner anderen Stadt wurde in Augsburg ein entscheidendes Kapitel der Stadtgeschichte von der Kirchen- und Religionsgeschichte mitgeformt und mitgeprägt, wurde Stadtgeschichte zu Kirchengeschichte und umgekehrt.” Was Breuer wusste: Stadt und Welt sind untrennbar in einem wechselseitigen Verhältnis verbunden. Die Weltverhältnisse wirken in eine Stadt und eine Stadt wirkt in die Welt hinein. Eine offene und vielfältige Stadtgesellschaft, wie sie das “Selbstverständnis Friedensstadt” wünscht, ist ohne Wechselwirkung und Austausch zwischen Innen und Außen überhaupt nicht möglich. Dazu gehört selbstverständlich auch, sich selbstkritisch mit der eigenen Rolle beim internationalen Waffenhandel oder mit der eigenen Außenwirkung als “Friedensstadt” auseinanderzusetzen. Das kann oder könnte das Wort „Selbstverständnis“ auch bedeuten. Frieden ist ein ungeheuer großes Wort.
Kommunale Kernaufgabe – mit und ohne Exklusivfeiertag
In der Präambel zum “Selbstverständnis Friedensstadt” heißt es, das “Selbstverständnis und Bekenntnis zur ‘Friedensstadt Augsburg’“ gründe auf dem “bundesweit einmaligen Feiertag” des Hohen Friedensfestes am 8. August. Der Auftrag, “das friedliche Miteinander in die Gegenwart zu tragen”, basiere auf diesem Tag, der im Jahr 1950 zum gesetzlichen Feiertag erklärt worden sei. Wozu das Absolutadjektiv “einmalig” und wozu diese Geschichtskonstruktion? Sollte die Stadt Augsburg wirklich einen einzigartigen, gesetzlich verankerten Feiertag ihr Eigen nennen, nur um damit den Aufgaben nachzukommen, die jede „bunte“ Kommune im 21. Jahrhundert hat? Die Förderung des Gemeinschaftslebens und des Wohls der Einwohnerinnen und Einwohner ist keine Herausforderung nur für Augsburg, sondern kommunale Kernaufgabe – mit und ohne Exklusivfeiertag.