Warum die Stadt Augsburg einen Aktionsplan gegen Antisemitismus braucht
Wie bekämpft man Antisemitismus? Mit erhöhten Strafzumessungen und Abschiebe-Drohungen? Mit schärferen Gesetzen und mithilfe eines Antisemitismus-Zusatzes im Grundgesetz? Diese Fragen sollen hier nicht erörtert werden. Hier geht es zuvorderst darum, wie man Antisemitismus vor der eigenen Haustüre bekämpfen kann.
Von Siegfried Zagler und Bernhard Schiller
Das Ausmaß des Antisemitismus ist in Deutschland auf leichtfertige Weise unterschätzt worden. Der Hamas-Terror und die darauffolgenden Reaktionen aus bestimmten Gruppierungen des linken wie rechten Spektrums sowie aus bestimmten Gruppierungen der muslimischen Communities haben zutage gefördert, was unerträglich und unfassbar in der Mitte der deutschen Gesellschaft als kulturelle Haltung existiert und gepflegt wird: Vernichtungsfantasien zu Israel. Dies entlädt sich durch inakzeptable Mobs auf der Straße und wird durch zurückhaltende Distanzierung der Islamverbände sowie durch absurde Relativierungen aus dem deutschen Politik- und Kulturbetrieb unterfüttert. In Deutschland sind die neuen-alten Ängste der hier lebenden Juden keineswegs paranoide Schübe, sondern rational gerechtfertigte Befürchtungen bezüglich ihrer Sicherheit und Existenz.
Antisemitismus in Deutschland wäre aber nicht nur unterschätzt, sondern beinahe verleugnet und systematisch übersehen, würde man ihn “nur“ als Unfall einer Zuwanderungsproblematik oder eine Frage des Umgangs mit politischem Extremismus darstellen. Antisemitismus ist auch definiert durch Duldung antiisraelischer Umtriebe und Relativierung antisemitischer Gewalt.
“Gebildeter Antisemitismus” existiert seit langer Zeit in den Tiefen der Politik, ist bei Kulturschaffenden, in kommunalen Verwaltungen, christlichen sowie „friedensbewegten“ Gruppen anzutreffen. Ein eher neuartiges Phänomen ist die Beeinflussung der Kinder und Jugendlichen durch Medien wie TikTok, wo zusammengehängte Gewaltdarstellungen und Hetze gegen den „Kindermörder Israel“ eine hohes Emotionalisierungspotenzial haben, frei verfügbar und teilbar sind.
“Antisemitismus ist ein variables, vielschichtiges und offenes System, das sich im Laufe seiner Geschichte ständig mit neuen Facetten anreichert und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen immer wieder neu erfindet.”
Dies schreibt Peter Schäfer, emeritierter Professor für Judaistik. Schäfer hat an der Freien Universität Berlin und der Princeton University geforscht und gelehrt. Antisemitismus existiere als Ideologie: Bewährte Elemente blieben als antisemitische Konstante erhalten und würden durch neu hinzukommende Elemente nicht etwa relativiert, sondern intensiviert. Diese Intensivierung ist in Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern auf dem Vormarsch und hat sich nach dem 7. Oktober dramatisch entladen.
Dabei stehen vielen derjenigen, die auf der Seite Israels stehen (ebenfalls eine kulturelle Haltung), Entsetzen und Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. Letzteres sollte sich hier schnellstmöglich verflüchtigen, denn selten war und ist ein Staat in seiner Integrität und Glaubwürdigkeit geforderter als die Bundesrepublik.
Mit allen Möglichkeiten des Rechtsstaats gegen Antisemitismus vorzugehen, bedeutet nicht nur Solidarität mit Israel, bedeutet nicht nur deutsche Staatsräson im Sinne Israels, sondern bedeutet auch, den Antisemitismus dort zu bekämpfen, wo es am schwierigsten ist, nämlich vor der eigenen Haustüre.
Das sagt sich schnell, schreibt sich leicht. Festzuhalten ist aber, dass in Augsburg dringender Handlungsbedarf besteht. Kommunale Aktionspläne, Workshops und konsequente Grenzziehungen braucht es nicht nur gegen die Hetze und zum Schutz der Muslime, brauchte es nicht nur gegen Hetze gegen die LGBTQIA+ Communities, sondern längst auch gegen Antisemitismus jeglicher Art.
So sieht das zumindest Martina Mittenhuber, Leiterin der Stabsstelle Menschenrechtsbüro & Gleichstellungsstelle in Nürnberg. Mittenhuber räumt auf Anfrage der DAZ ein, dass in ihrer Stabsstelle bereits länger über einen “Aktionsplan gegen Antisemitismus auf städtischer Ebene” nachgedacht werde. Noch gebe es ihn nicht, könnte aber bald kommen, da es in Stadtverwaltungen an Expertisen fehle, die diese Defizite beheben könnten, wenn es zum Beispiel darum gehe, Mietverträge für Veranstaltungen abzuschließen.
Die Landeshauptstadt München hat diesbezüglich seit 2017 eine Vorreiterrolle inne. Der Münchner Stadtrat fasste am 17. Dezember 2017 einen Beschluss „Gegen jeden Antisemitismus!“. Der Beschluss folgt der „Arbeitsdefinition Antisemitismus“. Dabei geht es darum, Antisemitismus als bestimmte Wahrnehmung von Juden zu erkennen, die sich in Wort und Tat gegen jüdische und nicht-jüdische Einzelpersonen, gegen Eigentum, sowie Institutionen ausdrücken kann, aber auch gegen den Staat Israel. Der Münchner Stadtratsbeschluss trägt den Untertitel „Keine Zusammenarbeit mit der antisemitischen BDS-Bewegung“.
Das Bundesverwaltungsgericht fällte vier Jahre nach dem fraktionsübergreifenden Beschluss des Münchner Stadtrats im Januar 2022 ein Revisionsurteil gegen diesen Beschluss, da es zur Auffassung gelangt war, dass die Untersagung der Nutzung städtischer Räumlichkeiten für Veranstaltung mit BDS-Charakter das Grundrecht auf Meinungsfreiheit verletze.
Die Landeshauptstadt musste das Urteil des höchsten Gerichts zwar akzeptieren, revidierte ihre Haltung gegen BDS jedoch nicht. Vielmehr beschloss der Münchner Stadtrat am 22. März 2023, die dem ursprünglichen Beschluss zugrundeliegende „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ aufrechtzuerhalten mit dem Zweck, sie den städtischen Beschäftigten an die Hand zu geben, damit verwaltungsintern antisemitische Vorfälle erkannt werden können.
Die Stadt Augsburg ist von einem solchen Standard weit entfernt. In der Begründung, weshalb die Stadt den Reimann-Vortrag nicht aus städtischen Räumlichkeiten verbannen könne, wurde auf besagtes Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gegen die Landeshauptstadt München verwiesen. Bei einer Untersagung der Nutzung städtischer Räumlichkeiten „hätte sich die Stadt Augsburg in Widerspruch zu geltender Rechtsprechung gesetzt“, wie es im Sommer aus dem OB-Referat hieß.
Die Stadt München ließ sich von Klagen und Urteilen nicht entmutigen, sondern setzte ihren Weg der Prävention fort. Im Zuge der Auseinandersetzungen um den Auftritt des BDS-Unterstützers Roger Waters in der Münchener Olympiahalle im Mai dieses Jahres, beschloss der Münchener Stadtrat, dass ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben werden soll, um zu klären, wie künftig Auftritte von Künstlern mit antisemitischen Bezügen „zu verhindern sind“.
Bereits seit Januar 2022 gibt es in München einen „Aktionsplan Antisemitismus“ mit dem Ziel, die Aktivitäten der Landeshauptstadt gegen Antisemitismus zu strukturieren, zu bündeln und gezielt zu verstärken. Der Münchener Aktionsplan begreift die Abwehr von Antisemitismus dabei als eine „gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe“, was bedeutet, dass nicht nur die von Antisemitismus unmittelbar Betroffenen, „sondern die gesamte Münchner Stadtbevölkerung und deren Institutionen“ ein „klares Zeichen“ gegen Antisemitismus setzen „müssen“. Explizit bezieht sich der Münchner Aktionsplan auch auf die eigene Ablehnung von BDS als „deutliches Zeichen gegen Antisemitismus“.
Eine dergestalt institutionalisierte und von einem breiten politischen Konsens getragene Selbstverpflichtung der kommunalen Verwaltung gibt es in Augsburg bedauernswerter Weise nicht. Zwar wurden in einer ersten Reaktion auf den „Fall Reimann“ sämtliche Referenten und deren Dienststellen durch das OB-Referat am 19. Juli 2023 dazu aufgefordert, bei Veranstaltungen „mit Bezug zum Judentum oder zu Israel“ das Beratungsangebot der Israelitischen Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben (IKG) „zwingend“ in Anspruch zu nehmen, eine strukturierte und eigenständige Programmatik stellt diese Aufforderung allerdings nicht dar. Sie bezeugt geradezu auf dramatische Weise, wie blank die Stadt Augsburg in Sachen Antisemitismus ist.
Es kann nicht die Aufgabe der von Antisemitismus Betroffenen sein, der Stadt zu erklären, was Antisemitismus ist, wie und wo er aufschlägt. Antisemitismusbekämpfung ist nicht ausschließlich die Aufgabe der Juden, sondern die Aufgabe der Gesamtgesellschaft. Die Notwendigkeit der Kompetenzsteigerung beim Erkennen von Antisemitismus ist in der Stadt Augsburg mit Händen zu greifen.
Nicht nur weil der Hamas-Terror seinen Widerhall auch auf den Straßen dieser Stadt findet, nicht nur weil in Augsburg bei Kundgebungen „Kindermörder Israel“ gerufen wird. Es gilt auch, den schwer erkennbaren „gebildeten Antisemitismus“ zu bekämpfen, der als gesamtgesellschaftliches Phänomen existiert und der „aus nahezu allen Ebenen des sozialen Lebens artikuliert wird“, wie die Antisemitismus-Forscherin Monika Schwarz-Friesel im Jahr 2015 im Vorwort zu dem Standardwerk „Gebildeter Antisemitismus“ schreibt.
Die Antisemitismus-Debatten der letzten Jahre, so Schwarz-Friesel, hätten gezeigt, dass “Teile der deutschen Gesellschaft ein gravierendes Wahrnehmungs- und Akzeptanzproblem hinsichtlich der Realität und des Ausmaßes der aktuellen Judenfeindschaft haben”. Die anti-israelische Manifestation des modernen Antisemitismus erhalte nicht die Aufmerksamkeit und die Ablehnung, die sie benötige.
Bewusstseinsbildung und Erkenntnisfähigkeit sind die zwingenden Voraussetzungen dafür, dass dieses Präventionsgebot in die städtische Verwaltung und in ihre Einrichtungen Einzug erhält. Ein „Aktionsplan Antisemitismus“, wie ihn die Stadt München entwickelt hat – und wie er in der Stadt Nürnberg bereits diskutiert wird, wäre dazu der erste Schritt.