Videobeweis: Die Fairness leidet unter dem Gerechtigkeitswahn
Anmerkungen zum Videobeweis
Kommentar von Siegfried Zagler
“Die Wahrheit liegt auf dem Platz!” Dieser kategorische Imperativ stammt von Otto Rehhagel, einem Urgestein der Bundesliga. Rehagel hat im Laufe seiner langjährigen Trainerkarriere viel Unsinn erzählt und war dennoch zu einer bestimmten Phase der Bundesliga auf der Höhe seiner Zeit. “Rehakles” kurzer Ausflug in die Erkenntnisphilosophie hätte ihn zu einem großen Fußballweisen gemacht, hätte er öfters geschwiegen.
“Die Wahrheit auf dem Platz” spiegelt sich in einer Summe von Entscheidungen wider, die entweder richtig oder falsch sind. Im Sport gibt es keine Gerechtigkeit, sondern nur richtig oder falsch – und immerhin ein Ergebnis, das stets wahr ist. Die Frage, ob eine Regelverletzung zu pfeifen ist oder nicht, hat demnach nichts mit Wahrheit oder Gerechtigkeit zu tun, sondern mit einer Entscheidung des Schiedsrichters, die durch die Einführung des Videobeweises im Fußball zu einer Entscheidungsfindung gemacht wurde, zu einem Prozess gemacht wurde, der für mehr Fairness sorgen sollte. Beim Begriff “Videobeweis” impliziert der “Beweis” die Suche nach einem gerechten Urteil.
Schiedsrichterfehler gehören zum Spiel
Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Der Interpretationsspielraum wird durch den Videobeweis nicht aufgelöst, sondern vom Spielfeld in eine schwarze Box verlagert. Deus ex machina ist in der aktuellen deutschen Fußballgegenwart eine Art Schöffen-Trio vor einem fernen Monitor. Ein Fernsehgericht quasi, das von Millionen Augen kontolliert wird. Ein nicht gegebener klarer Elfmeter, wie etwa das Foul an Marco Richter im heutigen Abendspiel zwischen Frankfurt und Augsburg evoziert bei den Zeugen vor den Fernsehschirmen eben genau das Gefühl für etwas, das es im Sport nicht geben darf: Ungerechtigkeit. – Der Schiedsrichter auf dem Platz darf falsche Entscheidungen treffen. Schiedsrichterfehler sind verständlich und gehören zum Spiel – Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit nicht. Die Kategorie der Fairness leidet unter dem Gerechtigkeitswahn beim Sport.
Der Zuschauer im Stadion wird doppelt betrogen
Die Handhabe des Videobeweises in der Fußballbundesliga ist seit seiner Einführung willkürlich, undurchsichtig, wettbewerbsverzerrend und somit skandalös. Die DFL und DFB veräppeln mit dieser Form der “Entscheidungsfindung” die Zuschauer in den Stadien, da sie um zwei Szenarien betrogen werden. Erstens um das Momentum des “wahren Augenblicks” und zweitens werden ihnen die “Beweise” der Entscheidungsfindung vorenthalten.
Gegen messbare Fehlentscheidungen der Schiedsrichter sind Generationen von Fernseh-Nerds ins Feld gezogen. “Das Tor war irregulär. Der Treffer hätte nicht zählen dürfen”. Diese Sätze zählten Samstag für Samstag über Jahrzehnte hinweg zu den häufigsten Bewertungsaussagen von Trainern, Klubchefs und Fernsehjournalisten, nachdem sie sich aus verschiedenen Kameraperspektiven und mithilfe von computergezogenen Abseitslinien ein Video-Urteil gebildet hatten. Urteile ohne Wirksamkeit, weil sich auf dem Platz der Augenblick der Wahrheit längst vollzogen hatte.
Der Videobeweis verändert die Dramaturgie des Spiels
Nachdem dem jahrzehntelangen Gezeter der “Fernseh-Nerds” stattgegeben wurde, wurde dem Bundesligafußball der Augenblick der Wahrheit genommen. Der Videobeweis zerstört das Spiel, weil er das Momentum der Wirklichkeit der Widergabetechnik von Kurzschlusszeichen unterwirft. Der Verlust des wahren Augenblicks tritt selbst dann zutage, wenn nach einem Tor oder einer Elfmeterentscheidung der Videoschiedsrichter nicht eingreift. Die Spannungsentladung der Stadionbesucher ist durch das Wissen um einen Videoschiedsrichter stets begleitet von einem langen Blick auf den Platzschiedsrichter und verliert somit an Intensität. Greift sich der Platzschiedsrichter doch noch ans Ohr, verändert der Videoschiedsrichter nicht nur die klassische Dramaturgie des Spiels, sondern betrügt auch die Besucher im Stadion um den erregenden Moment der Wahrheit.
Der wahre Moment des Spiels wird durch einen Entscheidungsprozess ersetzt
Ein Tor ist gültig, wenn der Schiedsrichter auf dem Platz zum Anstoßkreis zeigt. Ein Elfmeter ist ein Elfmeter, wenn ihn der Schiedsrichter auf dem Platz gibt. Der Moment, in dem ein Schiedsrichter auf dem Platz seine Entscheidung traf, war dieser erregende Moment der Wahrheit. Selbst wenn diese Entscheidung falsch war, war sie eine unumstößliche Tatsache, die unmittelbar Freude und Leid auslöste. Wonach sich das Publikum sehnt (oder wovor es sich fürchtet) ist die finale Entscheidung. Sie muss innerhalb des Spiels entstehen und von allen Beteiligten vor Ort angenommen werden.
Dieser wahre Augenblick des Spiels ist aktuell noch in der englischen Premier League zu erleben. Wird er durch einen undurchschaubaren “Entscheidungsprozess” ersetzt, verliert der Fußball die Kraft seiner Faszination. Apropos England: Niemand möchte ein Spiel verlieren oder gewinnen, wenn der Ball nachweislich nicht die Torlinie überschritten hat. Gegen Fehlentscheidungen dieser Art wurde die “Hawk-Eye-Torlinientechnik” entwickelt. Gegen diesen Videobeweis ist nichts einzuwenden.