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Freitag, 08.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

„Wohlwollende Neutralität“ des starken Staates

Ex-Verfassungsrichter Di Fabio plädierte im Goldenen Saal für Stärkung der Toleranz

Von Frank Heindl

Im Rahmen der Redereihe „Zusammen leben“, die sich mit „Vielfalt und Frieden in der Gesellschaft“ auseinandersetzt, sprach am Mittwoch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio im Goldenen Saal des Rathauses über das Thema „Neutralität und Laizität: Wie hält es der Staat mit der Religion.“ Den Thesen des Rechts- und Sozialwissenschaftlers stellte im anschließenden Gespräch Markus Günther, bis vor kurzem Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen, einige kritische Fragen gegenüber.

Laizität und Neutralität – Di Fabio sieht in beiden Konzepten Modelle des staatlichen Umgangs mit Religion und Religiosität. Während der in religiösen Dingen neutrale Staat sich in die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften lediglich nicht einmische, verweigere sich der laizistische jeder Kooperation – ein christliches Kreuz in der Schule sei daher im laizistischen Frankreich völlig undenkbar. Die Bundesrepublik sei zwar säkular, der Staat dürfe daher keine Religionsgemeinschaft bevorzugen – er bewahre sich aber eine „wohlwollende Neutralität“. Diese staatliche Wohlwollen beruht nach Di Fabios Ansicht auf einer positiven Einstellung zu Religion und Religiosität, aber auch darauf, dass die Religionsgemeinschaften das kulturelle Erbe der Gesellschaft nicht nur bewahren, sondern es auch leben und erfahrbar machen  Di Fabio nennt etwa ein christliches Hospiz als Beispiel, in dem Strebende in praktizierter Nächstenliebe bis zum Tod begleitet werden.

900 Schüler, 550 Muslime, 29 Nationen, alle Weltreligionen

Im Anschluss schilderte Di Fabio ein Beispiel, das klarmachen soll, „was sich in unserer Gesellschaft verändert hat“. Es geht um einen Berliner Muslim, der vor Gericht sein Recht eingeklagt hatte, in seinem Gymnasium zu beten. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Brandenburg gestand ihm dieses Recht nicht zu mit Verweis auf die reale Situation in dem Gymnasium: Von 900 Schülern sind dort 550 Muslime, 29 Nationen und alle Weltreligionen sind vertreten, es gibt erhebliche Konflikte zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften, Juden erleben „Tag für Tag“, so Di Fabio, antisemitische Schmähungen. Das OVG hielt es in dieser Situation nicht für praktikabel und außerdem dem Schulzweck widersprechend, jedem Schüler das Recht auf die Ausübung seiner religiösen Riten zuzubilligen. Es hebelte damit die „wohlwollende Neutralität“ gegenüber den Religionsgemeinschaften aus, zwang den Staat geradezu zur Laizität, denn dessen Neutralität beruhe auf Gegebenheiten, die er an der betreffenden Schule nicht mehr habe garantieren können – Di Fabio meint die kulturellen Errungenschaften von Toleranz und Demokratie.

Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio sprach am vergangenen Mittwoch im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses.


Er selber glaube aber, so Di Fabio, „dass die Laizität kein Königsweg ist“ – man müsse stattdessen das Neutralitätsprinzip neu denken. In Frankreich etwa habe seine Laizität den Staat in eine kämpfende Rolle gedrängt. Kampf mache aber unbeweglich und sei „Wasser auf die Mühlen derjenigen, die den Kulturkampf suchen.“ Tolerant, so Di Fabio, könne nur sein, wer stark sei – daher müsse der Staat die kulturellen Wurzeln stärken, und über seinen tolerant-wohlwollenden Umgang mit den Religionen auch die religiöse Toleranz. Antisemitismus und Religionsmobbing an einer deutschen Schule bezeichnet er deutlich als „Skandal“.

Im Grundgesetz ist auch der islamische Gott „mit dabei“

Die Behauptung, mit dem Gottesbezug im Grundgesetz sei nicht allein den christlichen Gott gemeint – auch der islamische Gott sei da „mit dabei“ – mochte man Di Fabio nicht so unbedingt abnehmen, und in diese Richtung zielte die erste Frage, die im anschließenden Gespräch Markus Günther dem Ex-Verfassungsrichter stellte: Ob das Wort von der „wohlwollenden Neutralität“ nicht schlichtweg ein Euphemismus sei, der das wahre Faktum verschleiere: dass der Staat die christlichen Kirchen bevorzuge. Das wollte Di Fabio nicht gelten lassen: Wenn eine Religionsgemeinschaft die Grundvoraussetzungen erfülle, also etwa eine gewisse Institutionalisierung und Staatsferne, dann könne sie sogar Sendezeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten, „dann haben wir ein islamisches Wort zum Sonntag“. Warum aber dann in den Schulen nach wie vor christliche Kreuze an den Wänden hingen? Di Fabio wollte nicht entscheiden, ob es sich bei diesen Kreuzen um eine abstrakte Tradition oder doch eher um einen Hinweis auf den christlichen Gottessohn handle – für ihn sei die Tradition gemeint.

Die Kirchensteuer – eine „Win-win-Situation“?

Das klang ein wenig weltfremd und allzu akademisch abstrakt, so wie auch zuvor schon der Hinweis auf die „Nächstenliebe“ allzu unhistorisch daherkam – als ob es nicht Zeiten gegeben hätte, da auch von deutschen Kanzeln antisemitisch gepredigt wurde und in christlichen Waisenhäusern und Internaten Kinder gequält und vergewaltigt wurden unter dem Deckmantel besagter Nächstenliebe. Auch Di Fabios Einstellung zur Kirchensteuer, auf die Markus Günther zu sprechen kam, schien allzu theoretisch: Es handle sich um eine „Win-win-Situation“, von welcher Staat wie Kirche profitierten. Sogar beim unlängst ergangenen Appell des Papstes, die Staatsnähe der Kirche zurückzuschrauben, rudert Di Fabio zurück: Was der Papst genau gemeint habe, wisse man nicht, Staatsferne hätten die Päpste schließlich seit je gefordert.

Di Fabios Vortrag war intellektuell anregend, als Diskussionsgrundlage nicht ungeeignet. Doch mehr und mehr kam der Verdacht auf, dass er die geforderte konkrete Auseinandersetzung mit den Problemen der Vielkulturalität selbst nicht einlöst, sondern ihnen mit einer Haltung ausweicht, die den Status Quo als Ultima Ratio verherrlicht – so, wie es eh schon ist, soll es am besten auch bleiben. Man muss dem Argument nicht zustimmen, hätte es aber durchaus ernsthafter ins Auge fassen können: Dass der Staat gegenüber Intoleranz und Fanatismus durchaus stringenter argumentieren kann, wenn er eben nicht eine Seite, nämlich die christliche, „wohlwollend“ favorisiert, weil die andere – in diesem Fall die islamische – nicht über die erforderlichen Strukturen verfügt, um als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden. Solche Forderungen sind wirklichkeitsfremd und leicht als Willkür zu diskreditieren.